FÜNFTER TEIL: DIE GRAPHIKER
2z(.2
sehen heran. In ihnen sind einige der auffallendsten und wirksamsten Züge der Bibelholzschnitte
vorgebildet: die verblüffend drastische, lebensnahe, ja von Lebenskraft überschäumende Schilde-
rung zeitgenössischer Charaktertypen, die Ausdruckskraft der erstaunlich überzeugend beobach-
teten Bewegungen, die effektvollen, oft kontrapostisch ausgewerteten Rückenfiguren, die von
hinten gesehenen, kühn verkürzten Pferde (vgl. Abb. S. 241 mit „Jahresgabe", Abb. 23!)
usw. usw. Auch die Illustrationen des „Chevalier delibere" wird der Lübecker Zeichner also ge-
kannt und ausgewertet haben. Fast fühlt man sich sogar versucht, zu vermuten, er könne ein
Schüler dieses Meisters gewesen sein. Denn in des Holländers Schaffen scheint auch die Art des
„Bellaert-Zeichnets" und die Art des „Delfter Meisters" eingegangen zu sein; in ihm waren also
schon vor der Entstehung der Lübecker Folgen jene beiden verschiedenen Ströme zusammen-
geflossen, deren Vereinigung sich in den Lübecker Holzschnitten wiederholte. Aber hei genauerem
Zusehen erweist sich diese These doch als unmöglich. Denn der Lübecker Zeichner gestaltete
eines seiner wichtigsten Ausdrucksmittel, die Raumwirkung, völlig anders und viel eindringlicher
als der Illustrator des „Chevalier delibere" ($02).
In seiner Raumbehandlung folgte er, wie bereits gesagt, mehr der Art des „Bellaert-Zeichners",
wenn er auch weit über dessen Wirkungen hinaus in Neuland vorstieß. Überhaupt sind seine oben
aufgedeckten Beziehungen zu diesem Meister und zum „Delfter Meister" so eng, daß sie schwer-
lich nur indirekt durch den Meister des „Chevalier delibere" vermittelt sein können; sie sind viel-
mehr ganz entschieden direkter Natur. Offenbar kannte der Lübecker also die Werke aller dieser
holländischen Illustratoren und nahm von jedem der drei Meister Stilelemente, die seinem eigenen,
überaus vielseitigen Wollen entgegenkamen.
Darin unterscheidet er sich in höchst bemerkenswerter Weise von dem vierten obengenannten
Holländer, dessen Hauptwerk, die „IVAz erst nach dem Erscheinen der Lübecker Folgen
(1489 und 1494) im Jahre 1498 herauskam (503). Die Holzschnitte der „Vita Lidwine" sind eine
etwas jüngere holländische Parallele zu den lübeckischen Illustrationen. Die Engel, die Steinbart
auf S. 4 abbildet, gleichen den Engeln auf Abb. 9 und 30 der „Jahresgabe" ganz erstaunlich (vgl.
Abb. S. 242, 243). Nicht minder erinnert die Art, wie der Lidwine-Meister Zierarchitekturen
mit herabhängenden Vorhängen und Schlafzimmerszenen schilderte (Steinbart, Abb. auf S. 4
und 3), an Darstellungen in der Lübecker
Bibel („Jahresgabe", Abb. 16). Vor allem
aber finden sich zwei wichtige Neuerungen
des Lidwine-Meisters auch in den lübecki-
schen Holzschnitten: die freie Räumlich-
keit (304) und das großzügige Dahinströ-
men paralleler Faltenzüge. Eines jedoch
unterscheidet die beiden Meister vonein-
ander (außer der viel größeren Begabung
des Lübeckers): der Holländer ist ganz
offenbar aus der Werkstatt des Chevalier-
302) Über die Schwächen der Raumdarstellung
im Chevalier vgl. Schretlen, a. a. O. S. 31, und
Steinbart, a. a. O. 1.
303) Schretlen, a. a. O. S. 32f. u. Taf. 78A-C,
AfeHolzschnitt aus der Vita Lidwine, Schiedam, 1498. 79, 80; Steinbart, a. a. O. I, 13, 13 (mit Abb.).
Ein Engel zeigt der Heiligen die Krone des ewigen Lebens 304) Vgl. dazu Steinbart, a. a. O. I U. 13.
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sehen heran. In ihnen sind einige der auffallendsten und wirksamsten Züge der Bibelholzschnitte
vorgebildet: die verblüffend drastische, lebensnahe, ja von Lebenskraft überschäumende Schilde-
rung zeitgenössischer Charaktertypen, die Ausdruckskraft der erstaunlich überzeugend beobach-
teten Bewegungen, die effektvollen, oft kontrapostisch ausgewerteten Rückenfiguren, die von
hinten gesehenen, kühn verkürzten Pferde (vgl. Abb. S. 241 mit „Jahresgabe", Abb. 23!)
usw. usw. Auch die Illustrationen des „Chevalier delibere" wird der Lübecker Zeichner also ge-
kannt und ausgewertet haben. Fast fühlt man sich sogar versucht, zu vermuten, er könne ein
Schüler dieses Meisters gewesen sein. Denn in des Holländers Schaffen scheint auch die Art des
„Bellaert-Zeichnets" und die Art des „Delfter Meisters" eingegangen zu sein; in ihm waren also
schon vor der Entstehung der Lübecker Folgen jene beiden verschiedenen Ströme zusammen-
geflossen, deren Vereinigung sich in den Lübecker Holzschnitten wiederholte. Aber hei genauerem
Zusehen erweist sich diese These doch als unmöglich. Denn der Lübecker Zeichner gestaltete
eines seiner wichtigsten Ausdrucksmittel, die Raumwirkung, völlig anders und viel eindringlicher
als der Illustrator des „Chevalier delibere" ($02).
In seiner Raumbehandlung folgte er, wie bereits gesagt, mehr der Art des „Bellaert-Zeichners",
wenn er auch weit über dessen Wirkungen hinaus in Neuland vorstieß. Überhaupt sind seine oben
aufgedeckten Beziehungen zu diesem Meister und zum „Delfter Meister" so eng, daß sie schwer-
lich nur indirekt durch den Meister des „Chevalier delibere" vermittelt sein können; sie sind viel-
mehr ganz entschieden direkter Natur. Offenbar kannte der Lübecker also die Werke aller dieser
holländischen Illustratoren und nahm von jedem der drei Meister Stilelemente, die seinem eigenen,
überaus vielseitigen Wollen entgegenkamen.
Darin unterscheidet er sich in höchst bemerkenswerter Weise von dem vierten obengenannten
Holländer, dessen Hauptwerk, die „IVAz erst nach dem Erscheinen der Lübecker Folgen
(1489 und 1494) im Jahre 1498 herauskam (503). Die Holzschnitte der „Vita Lidwine" sind eine
etwas jüngere holländische Parallele zu den lübeckischen Illustrationen. Die Engel, die Steinbart
auf S. 4 abbildet, gleichen den Engeln auf Abb. 9 und 30 der „Jahresgabe" ganz erstaunlich (vgl.
Abb. S. 242, 243). Nicht minder erinnert die Art, wie der Lidwine-Meister Zierarchitekturen
mit herabhängenden Vorhängen und Schlafzimmerszenen schilderte (Steinbart, Abb. auf S. 4
und 3), an Darstellungen in der Lübecker
Bibel („Jahresgabe", Abb. 16). Vor allem
aber finden sich zwei wichtige Neuerungen
des Lidwine-Meisters auch in den lübecki-
schen Holzschnitten: die freie Räumlich-
keit (304) und das großzügige Dahinströ-
men paralleler Faltenzüge. Eines jedoch
unterscheidet die beiden Meister vonein-
ander (außer der viel größeren Begabung
des Lübeckers): der Holländer ist ganz
offenbar aus der Werkstatt des Chevalier-
302) Über die Schwächen der Raumdarstellung
im Chevalier vgl. Schretlen, a. a. O. S. 31, und
Steinbart, a. a. O. 1.
303) Schretlen, a. a. O. S. 32f. u. Taf. 78A-C,
AfeHolzschnitt aus der Vita Lidwine, Schiedam, 1498. 79, 80; Steinbart, a. a. O. I, 13, 13 (mit Abb.).
Ein Engel zeigt der Heiligen die Krone des ewigen Lebens 304) Vgl. dazu Steinbart, a. a. O. I U. 13.