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DIE BESTE GESCHICHTE DER WELT

VON

RUDYARD KIPLING

UEBERSETZT VON LEOPOLD LINDAU

R HIESS CHARLIE MEARS, war der
einzige Sohn einer Wittwe und wohnte
irgendwo im Norden von London. Jeder
Tag führte ihn in die City, wo sich
eine Bank seiner Mitwirkung erfreute.
Er war zwanzig Jahre alt und voller
Ehrgeiz und Streben.

Ich traf ihn zum ersten Mal in
einem Cafe beim Billard, wo ihn der
Marqueur bei'm Vornamen und er den
Marqueur „Dicker" nannte.

Charlie erklärte mir etwas nervös, dass er nur hierher
gekommen sei, um sich das Spiel anzusehen. Da dies unter
Umständen ein theueres Vergnügen werden kann, rieth ich
ihm, lieber nach Hause zu seiner Mutter zu gehen.

Dies war der Anfang unserer näheren Bekanntschaft.
Seitdem besuchte er mich von Zeit zu Zeit Abends, anstatt
mit seinen jungen Bekannten in London herumzubummeln.
Es dauerte nicht lange, so fing er an, mir sein Herz zu
öffnen und von seinem Sehnen und Trachten zu sprechen. Sein
Ehrgeiz war, sich einen Namen in der Litteratur zu machen;
in der Poesie selbstverständlich. Aber er hielt es auch nicht
unter seiner Würde, einstweilen für eine billige Wochen-
schrift tragische Liebes- und Mordgeschichten zu schreiben.

Ich war schliesslich dazu verurtheilt, still zu sitzen,
während Charlie mir seine epischen Gedichte vorlas, Hun-
derte von Versen und sehr voluminöse Dramen, bestimmt,
einst die Welt mit Bewunderung zu erfüllen. Als Belohnung
für meine Geduld schenkte er mir sein unbegrenztes Zu-
trauen. Die Geständnisse der Schmerzen und Freuden eines
Jünglingsbusens sollten ebenso heilig sein wie die einer Jung-
frau. Charlie hatte noch nicht geliebt, aber war bereit, sich
bei der ersten passenden Gelegenheit in Fesseln schlagen zu
lassen. Er hatte einen unerschütterlichen Glauben an Alles,
was gut und ehrenhaft ist, war aber zu gleicher Zeit ängst-
lich bemüht, mir zu zeigen, dass ihm durchaus nicht die
Welterfahrung mangele, die einem Commis in einem Bank-
hause, mit fünfundzwanzig Schilling Gehalt die Woche, zu-
kommt. Er reimte „Herzen" mit „Schmerzen", „Liebe" mit
„Triebe" und glaubte, dass diese Worte nie vorher so
wirkungsvoll placiert worden seien.

Die vielen unvollendeten oder fehlenden Scenen in
seinen Dramen ergänzte er mit hastigen Entschuldigungen
oder Erklärungen und stürmte weiter. Er sah Alles, was er
beabsichtigte, so klar und deutlich vor sich, dass er sich
fest einredete, es sei schon vollendet und dafür Beifall er-
wartete. Seine Mutter schien dies dichterische Streben nicht
besonders zu ermuthigen. Ich erfuhr auch, dass zu Hause
sein Waschtisch gleichzeitig zum Schreibtisch dienen musste.
Dies hatte er mir eigentlich schon beim Beginn unserer
Bekanntschaft eingestanden, als er mich zuerst in sein Herz
blicken Hess, mit der ernsten Bitte, ihm ehrlich und aufrichtig
zu sagen, ob er wirklich mal etwas Grosses und Gutes in der
Welt fertig bringen würde: — „etwas wirklich Bedeutendes,
etwas Unsterbliches! wissen Sie!"

C 7* D
 
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