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Streben nach Gott. Ob Durtal nun wirklich seiner Be-
kehrung sicher sein kann, weiss er es selbst? Als Lebens-
müder geht er von Kirche zu Kirche, zuerst um Kunstschätze
zu suchen — Huysmans' Helden suchen immer —, dann
um den Frieden zu finden. Er sucht in dem Leben der
Heiligen, erbittet den Rath eines alten Priesters, um den
Versuchungen der Fleischeslust zu entgehen, bis er die Pilger-
fahrt nach La Trappe unternimmt, wo seine Seele zur Ewig-
keit genesen soll. Und er kommt zurück: «Ich habe in zehn
Tagen zwanzig Jahre in diesem Kloster erlebt; und mir das
Gehirn zerstört und das Herz zerrissen. Paris und Notre-
Dame de l'Atre haben mich nacheinander ausgeworfen wie
ein "Wrack; nun bin ich dazu verurtheilt, nackt und kahl zu
leben. Man ist zu sehr Schriftsteller, um Mönch zu werden,
zu sehr Mönch, um unter den Schriftstellern zu bleiben.»
— Er hat höhere und letzte Dinge gesucht und begehrt; was
bleibt[ihm übrig? — Die moderne Welt, die moderne Kirche
sind ihm ein Ekel. Er ist aber zu sehr Schriftsteller .. . Und
weil Huysmans zu sehr Schriftsteller ist, weil er das herrliche
Buch „EnRoute" geschrieben hat, wird er auch weiter leben
und weiter schreiben. Er wird vielleicht die ewige Geschichte
des Verlangens nicht von neuem schreiben, sein Weg geht
durch die Religion zurück zur Kunst. — Davon werden die
Leser des PAN, die in diesem Heft ein Stück aus Lä-Bas
finden, bereits in der nächsten Publication ein glänzendes
Zeugniss erhalten.

Bei Huysmans endet der Lebensbankrott im Christen-
thum. Der junge Andre Gide streut die Müdigkeit des In-
tellectes in ein Buch zarter Ironie. Man muss es geniessen
wie einen schönen Holzschnitt, mit Kennerhänden; und man
findet Kleinodien darin. Paludes ist die Geschichte von
jemandem, der nicht reisen kann — bei Vergil heisst er
Tityrus —, Paludes ist die Geschichte eines Mannes, der
stundenlang ins Wasser schaut und keinen Fisch fängt, der
ein Buch schreiben will und es nicht kann, der nichts zu
thun hat und auch thatsächlich nichts thut; die Geschichte
des Menschen, der im Sumpfe steckt. Und es steht Alles in
Paludes, die reizendsten Bemerkungen der Lebensphilosophie
und Gesellschaftsironie. Es ist das Buch einer ganzen
Generation junger Männer, unter denen der Verfasser einer
der talentvollsten ist. Ein Buch der tiefen Enttäuschung und
Selbstkritik, vielleicht auch des Unvermögens, wenigstens des
fingierten Unvermögens. Eine Satyre «Symbole de quoi»
steht als Epigraph am Anfang, und in diesem Symbole de
quoi liegt die ganze Ironie des Buches. Spielerei, Tändelei,
kleine, süsse Freuden, — was ist unser Leben sonst noch?. . .
Als Gymnasiast debütierte Andre Gide vor vier Jahren mit
einem Geständnissbuche: „Les Cahiers d'Andre Walter", seit-
dem hat er ein Meisterwerk geschrieben „Le Voyaged'Urien",
in dem die ganze französische Neu-Romantik in nuce ent-
halten ist. Jetzt schliesst er den ersten Ring einer Spirale
mit diesem seltsamen Paludes, das gewissermassen eine
ironische Uebertragung seines ersten Buches ist. Sein ,letztes
Buch' hatte man nach den Cahiers d'Andre Walter schon
gesagt, und jetzt? ... Das koquett ausgestattete Bändchen
geht von Hand zu Hand, überall fragt man herum, wer's
gelesen hat — denn alles steht in Paludes.

Henri Albert

([ Schweden. I) In der schwedischen Litteratur, wie in der
der meisten Europäischen Länder, besteht ein tiefer Unter-
schied zwischen der dichterischen Production des achten und
des neunten Jahrzehnts. Das achte Jahrzehnt bei uns, wie
überall, war die Zeit des litterarischen Positivismus, da man
mit grösster Begeisterung nach dem Arbeitszimmer in Medan
blickte, und da sich die Dichter nicht nur damit begnügten,
die Sonntagskinder der „fröhlichen Wissenschaft" zu sein,
sondern auch das socialreformatorische Arbeiterkleid, oder das
LaboratoriumkostümdeswissenschaftlichenForschers anzogen.

Bei uns war der grosse und typische Name des Jahrzehntes
August Strindberg, der sich wohl durch seine schwedische
Launenhaftigkeit und seine unruhige und auf's Experimentiren
angelegte Genialität zum Theil von dem Dogmenzwang der
Richtung frei machte, aber doch insofern ihr gehorsamer
Sohn war, als er seine ganze Production immer den Tages-
ideen zu Dienst stellte und niemals ein Kunstwerk, das nur
Kunstwerk war, schaffen wollte.

Dagegen ist gerade die Lust, Schönheit ohne journa-
listischen Beigeschmack zu schaffen, der Antrieb zu den bei
uns bisher erschienenen Dichtwerken des neunten Jahrzehntes,
und wenn man auch da durch einen Namen das Wollen
Mehrerer ausdrücken will, hat Keiner so grosse Ansprüche,
genannt zu-werden wie Werner von Heidenstam, der
sowohl theoretisch wie praktisch für die grosse und freie
Kunst gekämpft hat. Seit 18$>o ist auch keine einzige Arbeit
von Bedeutung in unserem Lande erschienen, die sich nicht
jener Schönheitsdichtung anschlösse. Und die zwei in diesem
Frühjahre erschienenen Werke von grossem und bleibendem
Werthe: das Drama Judas von Tor Hedberg und Ge-
dichte von Werner von Heidenstam, gehen entschieden
in derselben Richtung, ohne in irgend einer Weise Mode-
schablonenwerke zu sein.

Das Drama Judas nimmt durch seine Tiefe und Ge-
dankenfülle einen hervorragenden Platz in unserer Litteratur
ein. Konnte, fragt sich hier der Verfasser, konnte nicht jener,
der seinen Herrn und Meister verkaufte, und sich selbst dann
das Leben nahm, konnte er nicht tiefer und bedeutender
sein als jener grosse Verräther, den Dante in die unterste Tiefe
seiner Hölle gesetzt, den die alten Mysterien als ein grauen-
haftes, abscheuliches Scheusal zu zeichnen liebten, und den,
mit staunenswerther Eintracht, die alten Künstler als einen
elenden Wucherertypus dargestellt haben ?

So hat sich die Grüblerphantasie des Tor Hedberg ge-
fragt, und allmählich ist ihm ein anderer Typus lebendig
geworden, der ewige Typus der Stiefkinder der Idealität, bei
denen es zwischen dem Verlangen des Egoismus und dem des
Traumes niemals eine Harmonie geben kann, und die durch
ihre leidenschaftliche Selbstsucht Abtrünnige gegen das eigene
Ich werden.

Dieser Judas ist einst ein junger Knabe gewesen, in
dessen Kinderseele die tonlosen Erzählungen seiner Mutter
von den Verheissungen der Prohpeten und des Messias eine
unklare und brennende Hoffnung gesenkt haben; er ist ein
Jüngling geworden, der, in schwärmerischer Ueberspanntheit,
in die Wüste gegangen ist, um sich durch Leiden zu einem
Erlöser der'grossen Sehnsucht des Volkes heranzubilden. Aber
dann tritt die Wirklichkeit an ihn heran mit den Bedürfnissen
des Körpers und mit den alltäglichen Sorgen, und plötzlich
sieht er, wie das Leben nur ein erbitterter Kampf ist, in dem

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