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E. M. GEYGEK, TINTENFASS

DER STAAT UND DIE KUNST

UEBERBLICKT man am Schlufs des Jahrhunderts den
Stand der Kunst, so kann es scheinen, als befinde sie
sich in voller Blüte. Scharen von Künstlern finden Be-
schäftigung an den zahllosen Bauten, die neu erstehen; die
Ausstellungen vermögen kaum Raum zu bieten für all die
Kunstwerke, die geschaffen werden; Gemeinden lassen ihre
Rathäuser mit Malereien, ihre öffentlichen Plätze mit Sieges-
und Kaiserdenkmälern schmücken; der Staat bestellt Kunst-
werke für seine Schulen und Verwaltungsgebäude, und füllt
seine Galerieen mit Erzeugnissen der modernen Kunst. Aller-
orten wird eifrig über Fragen der Kunst verhandelt, und nicht
gering ist die Zahl der Werke, die in den Besitz Einzelner
übergehen. Das Können der Künstler ist erheblich ge-
wachsen, fast jedes Jahr fördert neue Bestrebungen zu Tage,
welche Scharen von Anhängern um sich sammeln. Und doch
läfst all diese rührige Geschäftigkeit nicht das Gefühl auf-
kommen, als schreite die Kunst mit Sicherheit bestimmten
Zielen entgegen und erfülle eine ihr von der Zeit gestellte
Aufgabe.

Das meiste, was in solcher Weise den Augen des Publi-
kums vorgeführt wird, erweckt keine Teilnahme, weil es
nicht Bedürfnissen weder des Bestellers noch des Künstlers
entspricht, sondern aus blofser Handfertigkeit hervorgegangen
ist. Wohl giebt es einzelne Künstler, die ihre selbstgewählten
Wege gehen, ohne auf Lob oder Tadel zu achten; deren
Werke aber finden nur selten ihren Weg in die Oeffentlich-
keit und werden dort, weil sie vereinzelt bleiben, nur wenig
beachtet. Die Masse der übrigen sieht sich auf das Ver-
folgen ausgetretener Bahnen angewiesen, da ihnen neue Auf-

gaben nicht gestellt werden, ein freier Flug ihrer Phantasie
nicht geduldet wird und ein möglichst nichtssagender Inhalt
gerade als das erscheint, was gewünscht wird.

Eine solche Gestaltung der Kunst, welche dem Fortschritt
keine Nahrung bietet, die Ideale der Zeit — die stets da sind
und nach Verwirklichung ringen — nicht zum Ausdruck
gelangen läfst, und nur dazu dient eine Künstlerschaft, die
den Bedarf weit übersteigt, notdürftig am Leben zu erhalten,
vermag keine Zuversicht in die Zukunft zu erwecken. Sie
läfst es namentlich fraglich erscheinen, wie weit es gelingen
kann, die Fülle thatsächlich vorhandener Kraft bis zu dem
Zeitpunkt zu bewahren, wo es gelten wird, auch auf dem
Gebiete der Kunst den internationalen Wettkampf aufzu-
nehmen. Die Anzeichen für eine Besserung sind nur schein-
bar, denn jede neue Gestaltung der Kunst stöfst wieder auf
die gleichen Schwierigkeiten wie die vorhandenen. Solange
wirtschaftliche und politische Fragen die Aufmerksamkeit
vornehmlich auf sich ziehen, bleibt den Einzelnen nur wenig
Zeit und Mufse, sich mit der Kunst thatkräftig zu beschäf-
tigen; die Fürsten vermögen wenig zu helfen, seitdem die
Pflege der Kunst aufgehört hat, für sie eine persönliche Auf-
gabe zu bilden; die Thätigkeit der Gemeinschaften aber,
welche in früheren Jahrhunderten den Gang der Kunst be-
stimmt und ihr die Aufgaben gestellt haben, ist zum gröfsten
Teil vom Staat übernommen worden.

So ruht denn jetzt die Verantwortung für die Gestaltung
der Kunst wesentlich auf dem Staate. Handelt es sich bei
der Kunst auch um eine Entwickelung, die ihren natürlichen
Gesetzen folgt und nur in beschränktem Umfange durch

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