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Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0106
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8o

Hercules Prodicius

der Visionsinhalt in eigentümlicher Weise in zwei „Realitätsschichten“
zerlegt ist: nur die Frauen sind das unmittelbare Traumobjekt, die Land-
schaft ist der Ort, von dem sie kommen, und zu dem sie locken. Auch diese
veränderte Gesamtanordnung — die nun auch nach der Rückverwand-
lung des träumenden Scipio in einen wachen Hercules für die über-
wiegende Mehrzahl der Darstellungen verbindlich bleibt1) — ließe sich
ohne Heranziehung der Texte aus dem künstlerischen Bedürfnis nach
einem reliefhaft-großfigurigen Gruppenaufbau und einer stärkeren Dra-
matisierung erklären. Allein es darf nicht übersehen werden, daß dieses
künstlerische Bedürfnis, das den Gestaltungswillen des Renaissance-
künstlers automatisch von seinem nordischen Vorbild abdrängen mußte,
zugleich mit den Angaben der antiken Autoren, und insbesondere mit
denen des Silius, zusammentraf: die Umwandlung des „Raumbildes
mit Figurenstaffage“ zu einer „figürlichen Dialogszene mit
Hintergrundslandschaft“ entspricht durchaus der Vorstellung des
Silius Italicus, der, wie wir wissen, die „Virtus“ und die „Voluptas“
unmittelbar an Scipios Seite auf tauchen läßt, um sie sodann in ihren
Reden von ihren heimatlichen Gefilden berichten zu lassen. „At si me
comitere, puer, non limite duro l Iam tibi decurrat concessi temporis aetas“,
sind die Worte der „Voluptas“; und noch anschaulicher und in noch auf-
fallenderer Übereinstimmung mit Raffaels Landschaftsgestaltung schil-
dert die „Virtus“ ihr Heim: „Casta mihi domus et celso stant colle
penates, | Arduasaxoso perducit semitaclivo.“ Drittens: „Virtus“ und
„Voluptas“.In diesen beiden, j etzt auch in formaler Hinsicht zu Haupt-
personen auf gerückten Figuren tritt der Gegensatz des Raffaelbildes zum
Holzschnitt vielleicht noch deutlicher hervor, als in der Gestalt des Sci-
pio. Unterscheidet sich dieser von seinem nordischen Vorbild im wesent-
lichen durch seinen antikischen Habitus, so drückt sich in dem Gestalt-
wandel der Personifikationen ein grundsätzlicher Sinnwandel aus, der
hier wie dort auf eine Veredlung hinausläuft. Kein Zweifel, daß Raffael
auch hier dem Siliustext um ebensoviel näherkommt, als er sich von dem
Holzschnitt entfernt. Und doch tritt gerade in diesen beiden Figuren nicht
nur der Gegensatz zwischen italienischer Renaissance und
nordischem Spätmittelalter, sondern auch der Gegensatz zwi-
schen italienischer Renaissance und römischer Antike her-
vor. Wie schon der alte Theodor Carl Schmid in feiner Analyse gezeigt
hat2), ist in der Darstellung des Silius das „Römische“ auch darin aus-
geprägt, daß seine „Tugend“, im Gegensatz zur Xenophontischen, weni-
ger eine Virgo ist, die das Bild einer harmonischen, abgerundeten, all-

1) Vgl. hierzu Kapitel VI. und VII.

2) Theodor. Carol. Schmid a. a. O. S. 37ff.
 
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