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Bildeinfluß und Texteinfluß in Raffaels ,,Traum des Ritters“ 79

wirkte ja das anschauliche Vorbild des Holzschnittes mit dem „somno
cum forte iaceret“ des Brantschen „Argumentum“ zusammen) das
„Sitzen“ in ein Schlafen verwandelt werden mußte.1) Zweitens: die
Gesamtkomposition. Das starke Hineinspielen des Persius-Scholions
und der pseudovirgilischen Verse über die „Litera Pythagorae“ hatte zur
Folge gehabt, daß der Narrenschiffs-Holzschnitt die beiden Frauen ge-
wissermaßen zur Landschaftsstaffage degradiert und recht eigentlich „in
den Hintergrund“ gedrängt hatte: sie stehen — klein und fern — auf der
Spitze der Hügel, zu denen die Gabelwege hinaufführen. Bei Raffael ist
das Verhältnis umgekehrt: „Voluptas“ und „Virtus“ sind mit dem träu-
menden Scipio in einer Reliefschicht vereinigt, d. h. sie befinden sich, zu
voller Größe entwickelt, im Vordergründe, während der Doppelhügel -—-
nicht unähnlich der Anordnung in Abb. 38 — zu einer kleinen, im Mittel-
gründe untergebrachten Bodenerhebung zurückgebildet ist; und erst im
Hintergründe findet der Gegensatz, den die beiden Frauengestalten ver-
körpern, seinen landschaftssymbolischen Ausdruck: auf Seiten der „Volup-
tas“ in einer freien, heiteren und erst am Horizont durch besonnte Hügel-
ketten abgeschl ossenen Flußlandschaft, auf Seiten der,, Virtus'' in einer
steilen Bergkuppe, in deren Areal ein riesiger Fels und eine kloster-
artige, von einem spitzen Kirchturm gekrönte Gebäudegruppe sich teilen;
es ist die hier noch mittelalterliche „Tugendburg“2), die sich alsbald
in einen antikischen, meist als Zentralbau gebildeten Ruhmes- oder
Ewigkeitstempel verwandeln sollte. Man sieht: dem träumenden Hercules
des Holzschnitts erscheinen zwei Wege, an deren Ende sich zwei
Frauen befinden — der träumende Scipio des Raffaelischen Bildes
erblickt in nächster Nähe zwei redende und gestikulierende Frauen,
hinter denen sich, in weiter Entfernung, eine ihrem Wesen entsprechende
Hintergrundslandschaft erstreckt. Dort sind die Personifikationen
an ihren Wohnsitzen verblieben, so daß sie mit ihrer Umgebung zu einem
einheitlichen Visionsinhalt zusammengezogen erscheinen (und zwar zu
einem optisch-bildhaften, nicht mimisch-dialogischen, denn die Vor-
stellung, daß die beiden auf diese Entfernung hin agieren und reden, hat
fast etwas Komisches) — hier haben sie ihre Wohnsitze verlassen, so daß

1) Auf jeden Fall ist das Motiv des Lorbeerbaums eine weitere Stütze für die Scipio-
deutung. So naheliegend es erscheinen könnte: wir haben unter den Darstellungen der
eigentlichen „Wahl des Hercules" keine gefunden, die die Szene unter einen Lorbeerbaum
verlegte. Meist spielt sie in einer nicht näher bestimmbaren Wald- oder Gebirgsumgebung;
bei Carracci und Pietro da Cortona (Abb. 65, 73) am Fuß einer deutlich charakterisierten
Palme; in Schwenters Herculesdrama laut ausdrücklicher Anweisung ,,unter dem Schatten
eines Buchsbaumes“ (Abb. 41, Textzitat S. 87).

2) Ein besonders lehrreiches Beispiel der (von den Virtutes verteidigten und von den
Vitia belagerten) Tugendburg enthält der von Saxl veröffentlichte Codex Casanatensis
1404 (Festschrift für Julius Schlosser zum 60. Geburtstage, 1927, S. I04ff., Abb. 52).
 
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