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Panofsky, Erwin <Prof. Dr.>
Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst — Leipzig, Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.29796#0206
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i8o

Hercules Prodicius

Cortigiano, in denen wiederum Bembo es ist, der — zum Teil ganz
wörtlich nach Ficinos Symposionkommentar — die wahre, heilige, gei-
stige, göttliche Liebe predigt (,,amore vero, santissimo, razionale, di-
vino“), während der Weltmann Moretto da Ortona der gewöhnlichen,
sinnlichen Liebe (,,amore volgare, sensuale“), deren Genüsse jener als
falsch und trügerisch bezeichnet, das Wort redet.1) Und wenn man über-
haupt für die beiden durch materiellen Schmuck und ideale Nacktheit,
erdhafte Gebundenheit und überirdische Freiheit unterschiedenen und
dennoch einander zwillingshaft ähnlichen Frauengestalten des Ti-
zianbildes eine bestimmte Benennung vorschlagen wollte, so wäre es viel-
leicht das „Zeitgemäßeste“, sie wenn auch nicht als Verkörperungen des
„Amore celeste e profano“2), so doch als Verkörperungen jener ,,Geminae
Veneres“ anzusprechen, die der Neuplatonismus einander gegenüberzu-
stellen pflegte, — nicht nur im Sinne einer spezifisch erotischen, sondern
im Sinne einer allgemein metaphysischen Artunterscheidung und Höhen-
stufung: die Eine, ohne Mutter (d. h. ohne Mitwirkung der Materie) vom
Himmel erzeugt, bezeichnet nach Marsilio Ficino die „Anima intel-
lectualis“, die „Existentia propagans“ und daher auch die ,,Ipsa visio
pulchri“, während die Andere, die Tochter des Zeus und der Dione,
als „Vita mundo infusa“, als „Existentia propagata“ und daher auch
als ,,Voluptas circa pulchrum“ gedeutet wird.3) Damit wäre der tra-
ditionellen Bezeichnung des Bildes — die, abgesehen von ihrer modern-
sentimentalischen Formulierung, gar nicht so abwegig ist, wie manche
Interpreten es darstellen — ein zugleich präziserer und umfassenderer
Inhalt gegeben, der sowohl mit dem literarischen Typus des pla-
tonisierenden Dialogo d’Amore, als mit dem Bildtypus der
„Voluptatis cum Virtute Disceptatio“ in Übereinstimmung
stünde.

1) Baldassare Castiglione, II Cortigiano, seit 1528 öfter gedruckt, Buch IV, cap. 52ff.

2) Diese Formulierung hat man, dem maskulinen Geschlecht des „Amore“ ent-
sprechend, im 16. und frühen 17. Jahrhundert anscheinend nur auf solche Darstellungen
angewandt, die — meist in Gestalt einer Psychomachie — den Gegensatz in zwei männ-
lichen Genien symbolisierten, wie die bekannten Bilder Gentileschis und Bagliones (vgl.
H. Voss, Berliner Museen, XLIII, 1922, S. 60ff. und Jahrb. d. Preuss. Kstslgn. XLIV,
1923, S. 92ff.). Immerhin zeigt die Existenz und die Benennung dieser Bilder die große
Popularität der neuplatonischen Liebeslehre.

3) Marsilio Ficino, Comm. in Plotini Librum de Amore, Cap. 3 und 4 (Opera Omnia,
Basel 1576, Bd. II, S. 1714). Der Gegensatz zwischen „existentia propagans“ und „existen-
tia propagata“ läuft natürlich auf die bekanntere Unterscheidung zwischen „natura
naturans“ und „natura naturata“ hinaus. Die Wendung „ipsa visio pulchri“ ließe sich etwa
durch „reine Schau des Schönen“ wiedergeben, während „voluptas circa pulchrum" etwa
mit „Genuß am Schönen“ zu übersetzen wäre.
 
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