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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0479
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"Versuch za einer [Darstellung u. Kritik der FREUDschen Neurosenlehre. 475

logisch frühere ansetzt. — Dies beiseite gelassen, möchten wir darauf
hinweisen, daß von den zwei Prinzipien aus auf keine Weise zu ver-
stehen ist, was eigentlich ein Bedürfnis ist, obwohl die Prinzipien
doch nur zur Erklärung der Bedürfnisbefriedigung statuiert sind. Der
psychische Apparat folgt primär, seiner ersten Anlage nach dem
Bestreben, >sich möglichst reizlos zu erhalten«1. In diesem Be-
streben stört ihn die »Not des Lebens«: >In der Form der großen
Körperbedürfnisse tritt die Not des Lebens zuerst an ihn heran.«
Was wollen diese Bedürfnisse von ihm? Fallen sie vom Himmel
herunter als eine glatte Gemeinheit? Ein Nahrungsbedürfnis läuft
doch nicht draußen in der Welt herum, es trifft nicht den Organis-
mus wie Hagelschlag, sondern von einem Bedürfnis kann doch nur
die Rede sein, insofern es im Organismus selbst angelegt ist. Die
Anlage des Organismus ist aber primär auf Reizlosigkeit gerichtet.
Also einerseits strebt die Anlage nach Reizlosigkeit, andererseits sind
in ihr die Bedürfnisse vorgebildet, die Befriedigung heischen: die
Anlage des psychischen Organismus ist also von vornherein gespalten
und widerspruchsvoll! Dieser Widerspruch wird bei Freud nur da-
durch verdeckt, daß er die Bedürfnisse als Gegenstände behandelt,
die von außen an den nicht gereizt sein wollenden Organismus
herantreten. Aber ein Bedürfnis ist kein Gegenstand und kommt
nicht von außen, sondern ist eine psychophysische Beziehung des
Lebensindividuums zu seiner Umgebung und in diesem angelegt.
Die Freud sehe Theorie von den beiden Prinzipien der Bedürfnis-
befriedigung ist also nur dadurch möglich, daß sie sich mit aller
biologischen Auffassung der Lebensbedürfnisse in Widerspruch setzt.
Wie ist nun so eine seltsam widersinnige Theorie möglich?
»Bestreben, sich möglichst reizlos zu erhalten«, »Not des Lebens«:
hört ihr denn nichts, ihr Psychoanalytiker mit den scharfen Ohren,
für die keine Ausdrucksform zufällig ist? Das ist ja selbst die
Sprache der Neurose! Der primäre Zustand, den Freud an den
Anfang des psychischen Geschehens stellt, ist selbst der neurotische
Zustand. Hier enthüllt sich uns zum ersten Mal die Erkenntnis, daß
die Freud sehe Theorie selbst im innersten Grunde eine neurotische
ist, eine Erkenntnis, zu der wir später noch von ganz anderem Aus-

i Trdtg.» 8. 348.
 
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