Versuch zu einer Darstellung u. Kritik der FuEüDschen Neurosenlehre. 635
wäre die Libido phänomenal lediglich in den Tatsachen des indivi-
duellen Strebens und Begehrens repräsentiert, und die eigentlichen
Fundamente des Libidobegriffs, als eines reinen Denkbegriffs, wären
in formalen Quantitätsbeziehungen zwischen diesen Erscheinungs-
gebieten der Energie gegeben. Daß solche Quantitätsbeziehungen
im Gebiet des Psychischen nicht aufstellbar sind und darum dieser
Libidobegnff unhaltbar ist, bedarf kaum der Bemerkung. — Der
erste, phylogenetische Begriff dagegen veranlaßt dazu, das psycho-
analytische Erfahrungsgebiet auf die gesamte Menschheitsgeschichte
auszudehnen und zuzusehen, wieviel sich von dem Entwicklungs- und
Desexualisierungsprozeß der phylogenetisch verstandenen Libido in
historischen und mehr noch prähistorischen Zeiten nachweisen läßt.
In ganz anderem Sinne noch wird hier das völkerpsychologische
Material zum Gegenstand der psychoanalytischen Betrachtung gemacht
als für Freud und seine engeren Schüler: während diese in den
völkerpsychologischen Gebilden nur das Walten der ewigen individual-
psychologischen psychoanalytischen Mechanismen (z. B. der Symbolik)
und Affektprobleme (z. B. Odipusphantasien) nachweisen wollen und
historische Wandlungen nur im Bereich der historischen Bildungen
(z. B. Ausbildung des Inzestverbotes u. dgl.) aufsuchen, wird für
Jung vielmehr die völkerpsychologische Erfahrung zum Schauplatz
der Wandlung _ der Libido selbst. Die Mitteilung dieses Materials
ist der eigentliche Inhalt der großen Arbeit »Wandlungen und Sym-
bole der Libido«. Leider ist diese Arbeit ohne jede methodische
Besinnung unternommen, was eigentlich ihr Gegenstand ist. Die
Arbeit stellt sich dar als eine Analyse dreier hypnagogischer Dich-
tungen, die eine amerikanische Dame, Miß Frank Miller, 1906 in
den Archives de Psychologie veröffentlicht hat. Die Analyse wird
aber nicht in dem Sinne geführt, der eigentlich der einzige ist, in
dem bisher »Analyse« verstanden wurde: daß nämlich Einfälle oder
aber Daten aus dem Leben der Miß Miller beigebracht und daraus
Rückschlüsse auf die individuelle Determinierung der analysierten
Dichtungen gezogen würden. Nicht nur daß über die Persönlichkeit
der Miß Miller nur sehr Spärliches bekannt ist: die Analyse gilt
gar nicht dieser Persönlichkeit1. Sie überschreitet vielmehr alsbald
* Jung sagt z. B. gelegentlich ausdrücklich, daß der Mangel aller Nachrichten
»sein Gutes« hat, darum weil »unser Interesse durch keine Anteilnahme am
wäre die Libido phänomenal lediglich in den Tatsachen des indivi-
duellen Strebens und Begehrens repräsentiert, und die eigentlichen
Fundamente des Libidobegriffs, als eines reinen Denkbegriffs, wären
in formalen Quantitätsbeziehungen zwischen diesen Erscheinungs-
gebieten der Energie gegeben. Daß solche Quantitätsbeziehungen
im Gebiet des Psychischen nicht aufstellbar sind und darum dieser
Libidobegnff unhaltbar ist, bedarf kaum der Bemerkung. — Der
erste, phylogenetische Begriff dagegen veranlaßt dazu, das psycho-
analytische Erfahrungsgebiet auf die gesamte Menschheitsgeschichte
auszudehnen und zuzusehen, wieviel sich von dem Entwicklungs- und
Desexualisierungsprozeß der phylogenetisch verstandenen Libido in
historischen und mehr noch prähistorischen Zeiten nachweisen läßt.
In ganz anderem Sinne noch wird hier das völkerpsychologische
Material zum Gegenstand der psychoanalytischen Betrachtung gemacht
als für Freud und seine engeren Schüler: während diese in den
völkerpsychologischen Gebilden nur das Walten der ewigen individual-
psychologischen psychoanalytischen Mechanismen (z. B. der Symbolik)
und Affektprobleme (z. B. Odipusphantasien) nachweisen wollen und
historische Wandlungen nur im Bereich der historischen Bildungen
(z. B. Ausbildung des Inzestverbotes u. dgl.) aufsuchen, wird für
Jung vielmehr die völkerpsychologische Erfahrung zum Schauplatz
der Wandlung _ der Libido selbst. Die Mitteilung dieses Materials
ist der eigentliche Inhalt der großen Arbeit »Wandlungen und Sym-
bole der Libido«. Leider ist diese Arbeit ohne jede methodische
Besinnung unternommen, was eigentlich ihr Gegenstand ist. Die
Arbeit stellt sich dar als eine Analyse dreier hypnagogischer Dich-
tungen, die eine amerikanische Dame, Miß Frank Miller, 1906 in
den Archives de Psychologie veröffentlicht hat. Die Analyse wird
aber nicht in dem Sinne geführt, der eigentlich der einzige ist, in
dem bisher »Analyse« verstanden wurde: daß nämlich Einfälle oder
aber Daten aus dem Leben der Miß Miller beigebracht und daraus
Rückschlüsse auf die individuelle Determinierung der analysierten
Dichtungen gezogen würden. Nicht nur daß über die Persönlichkeit
der Miß Miller nur sehr Spärliches bekannt ist: die Analyse gilt
gar nicht dieser Persönlichkeit1. Sie überschreitet vielmehr alsbald
* Jung sagt z. B. gelegentlich ausdrücklich, daß der Mangel aller Nachrichten
»sein Gutes« hat, darum weil »unser Interesse durch keine Anteilnahme am