344 Ludwig Klages
bar ausdruckslos >denkendec vor, welcher in Wirklichkeit lautlos
sprechen gelernt, gestützt auf das Ausdrucksmittel der Schrift. Die
Denkfähigkeit im engeren Sinne sproßt aus derselben Wurzel wie
die sich im Schreiben äußernde Darstellungsgabe, und es muß die
Entwicklung beider Schritt für Schritt Parallelen zeigen.
Man hat viel hin und her gestritten, was eigentlich » Bildung «
sei, und doch reichen wenige Tatsachen hin, jeden Zweifel darüber
zu zerstreuen. Wenn man von heutigen Kulturstaaten irgendeinem,
z. B. etwa Bußland, Bildungsmangel vorwerfen möchte, so pflegt
man die mutmaßliche Zahl der Analphabeten anzugeben, und be-
kundet damit, daß man denjenigen für einen »Ungebildeten« halte,
der nicht schreiben könne. Dementsprechend ist die Scheidung in
>Gebildete« und »Ungebildete« erst seit der Renaissance allmählich
üblich geworden, während sie solchen Kulturen unbekannt blieb, die
wie das Altertum und das Mittelalter eine sinnliche und gesellige,
nicht aber eine abstrakte Bildung erstrebten. Wir heute haben es
fast vergessen, daß jede Gestaltungskraft, abgerechnet allein die
wissenschaftliche, der Schriftkenntnis entraten könne, und hören nur
mit höchster Verwunderung, daß die mehr als 40000 Verse des fin-
nischen Kalewala mindestens sechs Jahrhunderte hindurch von Ge-
schlecht zu Geschlecht mündlich überliefert wurden, oder gar daß
der Dichter des Parsifal weder lesen noch schreiben konnte! Indem
wir nämlich das abstrakte Denken dem konkreten, die »Intelligenz«
überhaupt der Leibes- und Kunstgeschicklichkeit überordneten und
an die Spitze aller Begabungen die des begrifflichen Urteils stellten,
so mußte der Schriftbesitz für uns zum Symbol der Überlegenheit
schlechtweg und ihr Nichtgebrauch zum Zeichen eines Mangels an
»Bildung« werden, den wir schwer noch mit genialer Leistungsfähig-
keit vereinbar finden. Innerhalb derer, die alle schreiben können,
hat sich nun zwar die Bildungsgrenze nach oben verlagert, allein
wir brauchen nur dem Fingerzeig der Begriffsentstehung zu folgen,
um sie mit Sicherheit als dort verlaufend zu kennzeichnen, wo die
Fähigkeit beginnt, die eigenen Gedanken ohne Bücksicht auf
Mitteilungszwecke schriftlich auszudrücken1.
1 Daß es für den »Gebildeten« als wiederum den »Denker« oder spezifischen
»Kopfarbeiter« wesentlich ist, bestimmende Eindrücke durch Lektüre zu empfangen
und sich zu objektivieren im geschriebenen Wort, darüber lassen zahlreiche Tat-
bar ausdruckslos >denkendec vor, welcher in Wirklichkeit lautlos
sprechen gelernt, gestützt auf das Ausdrucksmittel der Schrift. Die
Denkfähigkeit im engeren Sinne sproßt aus derselben Wurzel wie
die sich im Schreiben äußernde Darstellungsgabe, und es muß die
Entwicklung beider Schritt für Schritt Parallelen zeigen.
Man hat viel hin und her gestritten, was eigentlich » Bildung «
sei, und doch reichen wenige Tatsachen hin, jeden Zweifel darüber
zu zerstreuen. Wenn man von heutigen Kulturstaaten irgendeinem,
z. B. etwa Bußland, Bildungsmangel vorwerfen möchte, so pflegt
man die mutmaßliche Zahl der Analphabeten anzugeben, und be-
kundet damit, daß man denjenigen für einen »Ungebildeten« halte,
der nicht schreiben könne. Dementsprechend ist die Scheidung in
>Gebildete« und »Ungebildete« erst seit der Renaissance allmählich
üblich geworden, während sie solchen Kulturen unbekannt blieb, die
wie das Altertum und das Mittelalter eine sinnliche und gesellige,
nicht aber eine abstrakte Bildung erstrebten. Wir heute haben es
fast vergessen, daß jede Gestaltungskraft, abgerechnet allein die
wissenschaftliche, der Schriftkenntnis entraten könne, und hören nur
mit höchster Verwunderung, daß die mehr als 40000 Verse des fin-
nischen Kalewala mindestens sechs Jahrhunderte hindurch von Ge-
schlecht zu Geschlecht mündlich überliefert wurden, oder gar daß
der Dichter des Parsifal weder lesen noch schreiben konnte! Indem
wir nämlich das abstrakte Denken dem konkreten, die »Intelligenz«
überhaupt der Leibes- und Kunstgeschicklichkeit überordneten und
an die Spitze aller Begabungen die des begrifflichen Urteils stellten,
so mußte der Schriftbesitz für uns zum Symbol der Überlegenheit
schlechtweg und ihr Nichtgebrauch zum Zeichen eines Mangels an
»Bildung« werden, den wir schwer noch mit genialer Leistungsfähig-
keit vereinbar finden. Innerhalb derer, die alle schreiben können,
hat sich nun zwar die Bildungsgrenze nach oben verlagert, allein
wir brauchen nur dem Fingerzeig der Begriffsentstehung zu folgen,
um sie mit Sicherheit als dort verlaufend zu kennzeichnen, wo die
Fähigkeit beginnt, die eigenen Gedanken ohne Bücksicht auf
Mitteilungszwecke schriftlich auszudrücken1.
1 Daß es für den »Gebildeten« als wiederum den »Denker« oder spezifischen
»Kopfarbeiter« wesentlich ist, bestimmende Eindrücke durch Lektüre zu empfangen
und sich zu objektivieren im geschriebenen Wort, darüber lassen zahlreiche Tat-