Beitrag zur Psychopathologie und Psychologie des Zeitsinns. 341
größenvorstellungen ist wohl allgemein anerkannt; doch ist man
durch den Nachweis dieses Einflusses noch lange nicht
berechtigt, in diesem eine Grundlage oder gar die generelle
Grundlage des zeitlichen Wahrnehmens zu erblicken. Im
Gegenteil stehen einer solchen Auffassung die schwerwiegendsten
Bedenken entgegen. Zunächst sind bei sehr kurzen Intervallen
(z. B. bei Strecken von weniger als Vio Sekunde) durchaus keine
Spannungsgefühle oder gar Erwartungsaffekte zu bemerken. Auch
Lösungsgefühle und Überraschungsaffekte kommen dann natürlich
nicht zustande. KOlpe l hebt hervor, daß gerade in diesen kleinsten
Zeiten, in denen affektive Vorgänge fehlen, die Unterschiedsempfind-
lichkeit die feinste sei2. So scheidet für diese kleinsten Zeiten die
emotionelle Theorie aus.
Weiterhin können wir, wie S. 337 besprochen, kürzere Zeitstrecken
auch bei abgelenkter Aufmerksamkeit als Zeitgrößen wahr-
nehmen. Auch hier kann natürlich in einem Erwartungsaffekt, der
ja an die Hinrichtung der Aufmerksamkeit gebunden ist, die Grund-
lage der Zeitwahrnehmung nicht erblickt werden.
Ferner spricht es gegen die ausschlaggebende Wirkung des Er-
wartungsaffektes, daß dieser bei mit gleichförmigen Sinnesreizen
erfüllten Zeitstrecken weniger deutlich hervortritt, als bei reizbe-
grenzten Intervallen, daß aber — wenigstens bei kürzeren Zeit-
strecken — im allgemeinen die reizerfüllten Strecken gegenüber den
reizbegrenzten überschätzt werden. Weiterhin scheint mir bei Er-
zeugung von Zeitgrößenvorstellungen mittels taktierender
Bewegungen unmöglich dieErwartung des Intervallschluß-
reizes die Grundlage der Zeitschätzung bilden zu können.
Wir können doch unmöglich erwarten, was wir selbst erzeugen
wollen! Ein Erwartungsgefühl haben wir auch hier3, aber es be-
zieht sich nicht auf den selbsterzeugten Schlußreiz 4, sondern auf die
Vorstellung der abgelaufenen Zeitstrecke, die auf andere, später zu
1 Külpe [15] S?405.
2 Was allerdings bestritten wird.
5 Von Ebhardt, der auch auf diesen Widerspruch hinweist, wird es aller-
dings überhaupt in Abrede gestellt [6] S. 105.
* Schumann scheint allerdings auch beim Taktieren einen solchen auf den
Schlußreiz gerichteten Erwartungsaffekt anzunehmen [34] S. 40 ff.
größenvorstellungen ist wohl allgemein anerkannt; doch ist man
durch den Nachweis dieses Einflusses noch lange nicht
berechtigt, in diesem eine Grundlage oder gar die generelle
Grundlage des zeitlichen Wahrnehmens zu erblicken. Im
Gegenteil stehen einer solchen Auffassung die schwerwiegendsten
Bedenken entgegen. Zunächst sind bei sehr kurzen Intervallen
(z. B. bei Strecken von weniger als Vio Sekunde) durchaus keine
Spannungsgefühle oder gar Erwartungsaffekte zu bemerken. Auch
Lösungsgefühle und Überraschungsaffekte kommen dann natürlich
nicht zustande. KOlpe l hebt hervor, daß gerade in diesen kleinsten
Zeiten, in denen affektive Vorgänge fehlen, die Unterschiedsempfind-
lichkeit die feinste sei2. So scheidet für diese kleinsten Zeiten die
emotionelle Theorie aus.
Weiterhin können wir, wie S. 337 besprochen, kürzere Zeitstrecken
auch bei abgelenkter Aufmerksamkeit als Zeitgrößen wahr-
nehmen. Auch hier kann natürlich in einem Erwartungsaffekt, der
ja an die Hinrichtung der Aufmerksamkeit gebunden ist, die Grund-
lage der Zeitwahrnehmung nicht erblickt werden.
Ferner spricht es gegen die ausschlaggebende Wirkung des Er-
wartungsaffektes, daß dieser bei mit gleichförmigen Sinnesreizen
erfüllten Zeitstrecken weniger deutlich hervortritt, als bei reizbe-
grenzten Intervallen, daß aber — wenigstens bei kürzeren Zeit-
strecken — im allgemeinen die reizerfüllten Strecken gegenüber den
reizbegrenzten überschätzt werden. Weiterhin scheint mir bei Er-
zeugung von Zeitgrößenvorstellungen mittels taktierender
Bewegungen unmöglich dieErwartung des Intervallschluß-
reizes die Grundlage der Zeitschätzung bilden zu können.
Wir können doch unmöglich erwarten, was wir selbst erzeugen
wollen! Ein Erwartungsgefühl haben wir auch hier3, aber es be-
zieht sich nicht auf den selbsterzeugten Schlußreiz 4, sondern auf die
Vorstellung der abgelaufenen Zeitstrecke, die auf andere, später zu
1 Külpe [15] S?405.
2 Was allerdings bestritten wird.
5 Von Ebhardt, der auch auf diesen Widerspruch hinweist, wird es aller-
dings überhaupt in Abrede gestellt [6] S. 105.
* Schumann scheint allerdings auch beim Taktieren einen solchen auf den
Schlußreiz gerichteten Erwartungsaffekt anzunehmen [34] S. 40 ff.