30 Ludwig Klages
nun ihrerseits dem Gespött der Leute anheimfallt. — In einem sehr
unheimlichen Märchen der Litauer wird ein Mädchen von zwei Toten
verfolgt und flüchtet nach fruchtlos angewandten Beschwichtigungs-
mitteln in eine Hütte, deren Türklinke sie mit ihrem Rosenkranz
sichert. Aber auch dort liegt im Schein eines brennenden Kien-
spans ein Toter, welcher anfängt sich zu regen und gewillt scheint,
das Mädchen den beiden Verfolgern auszuliefern. Sie hält ihn hin
durch eine Beschreibung der Flachsbereitung, bis plötzlich der erste
Hahnenschrei den Zauber bricht, und da sieht sie nun, daß der Stuhl,
auf dem sie sich niedergelassen, ein Baumstumpf ist, die Hütte ein
Sumpf und die zwei Toten morsche Stämme1.
Wie aus sämtlichen Beispielen deutlich wurde, gehört es zum
Wesen der Erscheinung, keine Tatsache, und, wie wir jetzt strenger
sagen, kein Dasselbige zu sein, sondern im gleichen Augenblicke
dieses und doch ein anderes. Wir blieben aber unvollständig,
wenn wir den Gedanken nicht auch auf das Medium selbst alles
Träumens wie Wachens übertrügen und den Beweis erbrächten, daß
die Entdinglichung auch den Raum und die Zeit ergreife.
Dazu leite uns über die inspirierte Schöpfung eines anderen großen
Traumdichters, Conrad Ferdinand Meyers, dessen bekanntes
Gedicht »Lethe« wir nachstehend ungekürzt wiedergeben. Obwohl
wir nur der vierten Strophe für unsere Betrachtung bedürfen, so
käme sie doch um einen Teil ihrer traumerzeugenden Gewalt ohne
Begleitung der übrigen.
Lethe.
Jüngst im Traume sah ich auf den Muten
Einen Nachen ohne Kader ziehn,
Strom and Himmel stand in matten Gluten
Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord sich schlank,
Kreisend durch die Beihe sah ich glänzen
Eine Schale, draus ein jedes trank.
Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmut,
Das die Schar der Kranzgenossen sang —
Ich erkannte deines Nackens Demut,
Deine Stimme, die den Chor durchdrang.
In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke
Schaudert' ich, wie seltsam kühl sie war.
J Leskien und Brugmann, Litauische Volkslieder und Märchen S.497.
nun ihrerseits dem Gespött der Leute anheimfallt. — In einem sehr
unheimlichen Märchen der Litauer wird ein Mädchen von zwei Toten
verfolgt und flüchtet nach fruchtlos angewandten Beschwichtigungs-
mitteln in eine Hütte, deren Türklinke sie mit ihrem Rosenkranz
sichert. Aber auch dort liegt im Schein eines brennenden Kien-
spans ein Toter, welcher anfängt sich zu regen und gewillt scheint,
das Mädchen den beiden Verfolgern auszuliefern. Sie hält ihn hin
durch eine Beschreibung der Flachsbereitung, bis plötzlich der erste
Hahnenschrei den Zauber bricht, und da sieht sie nun, daß der Stuhl,
auf dem sie sich niedergelassen, ein Baumstumpf ist, die Hütte ein
Sumpf und die zwei Toten morsche Stämme1.
Wie aus sämtlichen Beispielen deutlich wurde, gehört es zum
Wesen der Erscheinung, keine Tatsache, und, wie wir jetzt strenger
sagen, kein Dasselbige zu sein, sondern im gleichen Augenblicke
dieses und doch ein anderes. Wir blieben aber unvollständig,
wenn wir den Gedanken nicht auch auf das Medium selbst alles
Träumens wie Wachens übertrügen und den Beweis erbrächten, daß
die Entdinglichung auch den Raum und die Zeit ergreife.
Dazu leite uns über die inspirierte Schöpfung eines anderen großen
Traumdichters, Conrad Ferdinand Meyers, dessen bekanntes
Gedicht »Lethe« wir nachstehend ungekürzt wiedergeben. Obwohl
wir nur der vierten Strophe für unsere Betrachtung bedürfen, so
käme sie doch um einen Teil ihrer traumerzeugenden Gewalt ohne
Begleitung der übrigen.
Lethe.
Jüngst im Traume sah ich auf den Muten
Einen Nachen ohne Kader ziehn,
Strom and Himmel stand in matten Gluten
Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord sich schlank,
Kreisend durch die Beihe sah ich glänzen
Eine Schale, draus ein jedes trank.
Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmut,
Das die Schar der Kranzgenossen sang —
Ich erkannte deines Nackens Demut,
Deine Stimme, die den Chor durchdrang.
In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke
Schaudert' ich, wie seltsam kühl sie war.
J Leskien und Brugmann, Litauische Volkslieder und Märchen S.497.