Wtzer Mksbllitl
Ll. 141.
WelbkU MW, dm 25. Junl 1897.
Verantwortlicher Redakteur c
Joseph Huber in Heidelberg.
Graan für Wasirfjeff, FMeit L KeM.
I monatlich SV H mit Trägerlohn, durch
chetnt täglich mit Ausnahme der Sonn- u.
ert^e^ »bonnementSpreiSmit dem wöchent-
Selber» monatlich SV L mit Trägerlohn,
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Gebr. Huber in Heidelberg,
Zwingerftraße 7.
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das III. Quartal (Juli, August, September) an.
Der Preis ist Mk. 1.60 vom Briefträger frei ins
HauS gebracht.
Dem „Pfälzer Volksblatt" wird jeden Sams-
tag das 8seitige UvterhaltungSblatt
Der Souutagsbote
beigcgeben, welcher besonders für die Familie
bestimmt ist.
Das Regierungszubiläum der Königin von
England.
Die Jubiläumsfeier wurde am Sonntag
in allen K rchen London'- und des Vereinigten Kö
nigreicheS, sowie der Colonieen gefeiert. In London
waren alle Kirchen bei dem vormittägigen, dem Nach-
mittags- und Abend-Gottesdienste io gedrängt voll,
daß Tausende nicht mehr Einlaß finden konnten und
vor den Kirchen stehen blieben, um wenigstens den
gesanglichen Theil des Gottesdienstes mitzumachen
und aus vollem Herzen in die Volkshvmne einzustim-
men, die an diesem Tage in allen Kirchen gesungen
wurde. Die tiefe Loyalität der Nation kam bei diesem
Anlafse zu überwältigendem Ausdruck. Die Haupt-
- feier fand in der St. Poul's Kathedrale statt. Es
waren aber nicht nur die Großen der Welt unter der
mächtigen Kuppel des großen Domes anwesend, sondern
alle Klassen der Bevölkerung hatten sich Hierselbst ein-
gefunden, und Hunderte aus dem Arbeiterstande
standen da, in tiefer Andacht den obern Zehntausend
zur Seite. Die Königin wohnte dem Gottesdienste
in der St. GeorgSkapelle in Windsor bei, und dem
einstimmigen Urtheile der Begünstigten nach, die Zu
laß erhielten, war es eine unvergeßliche Feier. Die
Königin kam, auf den Arm ihres indischen Dieners
gestützt, in die Kirche. Sie trug ihr Wittwenkleid u.
eine kleine Wittwenhaube, unter der ihr silberweißes
Haar hervor quoll. An ihrem Kirchenstuhle angelangt,
sank sie auf die Kniee, faltete die Hände zuerst zum
Himmel, schlug sich dann vor'S Gesicht und versank
dann mit nikdergebeugtem Haupt in ein stummes Ge-
bet, wobei man bemerken konnte, daß sie ihren Thrä-
nen freien Lauf ließ. Auf einen Wink des Dechants
verstummte die Orgel und nicht ein Laut störte die
eindrucksvolle Stille. Endlich war die greise Königin
ihrer Gefühle Herr gewcrden und der Gottesdienst
begann. Als der letzte Ton des le vsum luuäamus
verklungen war, trat Kaiserin Friedrich zu ihrer
Mutter und wollte sich vor ihr zum Handkuß auf die
Kniee niederlassen, wurde aber von der Königin daran
verhindert und an die Brust gezogen. Der Reihe
nach umarmte dann die Königin ihre Kinder und
Enkel, die dann in daS 6oä savo tfts tzuosu einstimm-
ten, während die Königin wieder auf den Knieen lag.
Damit kam die Feier zu Ende und die Königin ver-
ließ am Arme der Kaiserin Friedrich die Kapelle.
Die imposanteste Fner aber war daS Hochamt
in dem BromptonOratorium. Der Zu-
drang war ganz ungeheuer, und dies nicht nur von
Seiten der Katholiken. Lange vor Beginn der kirch-
lichen Feier war in dem großen und herrlichen Got-
teShause auch nicht ein Plätzchen mehr frei, und
außerhalb desselbi N stand eine solche Menschenmenge, daß
eS den geladenen Gästen schwer fiel, Eintritt zu er-
langen. Die Vertreter fremder Mächte, darunter die Bot-
schafter von Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Spanien
und Italien, der belgische Gesandte, Erzherzog Franz
Ferdinand von Oesterreich, Herzog Albert von Wär-
temberg, Prinz Friedrich von Sachsen und Prinz
Ruprecht von Bayern (den die englischen Carlisten
als den einzigen Nachkommen der StuartS, als den
legitimen Herrscher Englands betrachten), wurden beim
Eintritt in die Kirche vom Herzog von Norfolk im
Namen der Königin empfangen und von dem königl.
Cermonienmeifter, Lord Moreton, nach ihren Sitzen
geleitet. Wer sich nicht ein fand, war der
italienische Kronprinz, der im letzten Au-
genblicke (wegen der Anwesenheit des päpstlichen
Nuntius), seine Entschuldigung gesandt hatte, waS im
Publikum sehr frei commentirt wurde.
Die Kirche mit ihr-n mit Gold eingelegten Mar-
morwänden und Marmorsäulen bot einen überwältigen-
den Anblick. Die englische katholische Aristokratie
hatte sich fast vollständig eingefunven, die Herren in
ihren militärischen und Amtsuniformen, oder im Hof-
kleide, die Damen in glänzenden Toiletten, was den
Anblick nicht wenig in seiner Wirksamkeit steigerte.
Unter den Anwesenden bemerkte man den Marquis
und die Marquise v. Ripon, Admiral Lord Walter
Kerr, Lord Denbigh, V comte Llandaff, die Häupter
der schottischen katholischen Familien im Hochland-
Kostüm, den Lord-Oberrichter Lord Rüssel, den Lord-
Oberrichter von Irland Sir Peter O'Brien, Richter
Mathews und den protestantischen berühmten Richter
Sir Henry HawkinS, dessen Hinneigung zum Katho-
l'ciSmuS bekannt ist. Der Premier Minister von
Canada Mr. Lancier und der Premier Minister von
Neuseeland waren gleichfalls anwesend und ebenso
die Vertreter von Argentinien, Brasilien, Mexico,
Chile, Peru, Colombia und Urugnai, alle in gold-
strotzenden Uniformen.
DaS Hochamt celebrirte der päpstliche Nuntius,
Erzbischof Sambucetti, umgeben von einem glänzenden
Gefolge hoher kirchlicher Würdenträger in ihren
herrlichen weißen und goldgestickten Ornaten, von denen
sich Cardinal Vaughan in seiner purpurnen OaxpamaZna.
wirksam abhob. Zum Schlüsse des Tedeums wurde
Cardinal Vaughan'S Hirtenbrief von den Altarstufen
verlesen.
Auch in allen andern katholischen Kirchen fand
ein Dankgottesdienst in feierlicher Weise statt, und
am Abend gingen von vielen katholischen Kirchen
Processionen aus, die wohl das auffälligste Wahr-
zeichen der Wandlung bezeichnen, die sich den Katho-
liken gegenüber unter der Regierung der Königin
Viktoria vollzogen hat, eine Wandlung, die nicht nur
von oben kommt, sondern auch, waS daS Erfreulichste
ist, sich bis ganz nach unten erstreckt hat. Was
beim Regierungsantritt der Königin verboten war
und zu Ruhestörungen geführt hätte, ist heute nicht
nur geduldet, sondern hat auch einen solchen Halt
beim Volke gefunden, daß heute in den
Straßen keine kat h o l is che P roz ess i o n vor-
überzieht, ohne daß alle Häupter entblößt würden,
und alles in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrt!
Welche Wandlung der Zeiten!
Deutsches Reich.
* Berlin, 23. Juni. Die Session des preußischen
Landtages wird voraussichtlich am 1. Juli geschlossen
werden.
* Berlin, 23. Juni. Der Nordd. Allg. zufolge
ist die reichsgesetzliche Regelung des Hypotheken-
wesens jetzt von Neuem in Angriff zu nehmen.
* Köln, 23. Juni. Die „Kölnische Zig." mel-
det aus Luxemburg, Graf Henkel von Donners-
mark, BotschaftSrath in Konstantinopel, ist Mm
deutschen Ministerpräsidenten in Luxemburg ernannt
worden.
* Wiesbaden, 23. Juni. Die Reichstags-
stichwahl ergab in der Stadt Wiesbaden
2 Blind und doch sehend.
Mit immer größerer Erregung mußte Rudolf das von
der Natur mit verschwenderischem Reiz auSgeftattete
Wesen betrachten; immer und immer wieder stahl sich
! sein Blick zu ihr hinüber und kehrte trunken zu der
entstehenden Skizze des Freundes zurück. Auf einmal
trübte sich seine entrückte Miene und er rief erblassend:
„O Gott! o Gott!"
Eben war Adolf mit seiner Zeichnung fertig und legte
sie jenem mit der Frage vor: „Ist sie getroffen?"
.Vollkommen — kein Zug verfehlt" — bezeugte Rudolf
— „aber ich bin erschrocken, daß mir das Blut in den
Adern starrt, — das herrliche Geschöpf ist ja blind!"
„Leider!" bestätigte Adolf, „es ist, als habe es die
Natur gereut, ein allzu vollkommenes Werk geschaffen zu
haben, und sie habe durch das Erblmdenlaffen ihr Versehen
wieder gut machen wollen. Aber du hast es sogleich erkannt,
daß sie blind ist, obschon ihre tiefblauen Augen aus dieser
Entfernung gesehen, völlig gesund zu sein scheinen?"
„Ick müßte nicht die Augenheilkunde zu meinem Lieb-
lingsstudium gemacht haben, wenn ich das nicht erkennen
wollte," sagte Rudolf. „Ich wollte eine Staaroperation im
Finstern vornehmen, so genau habe ick das menschliche Auge
studirt- Doch nun gib mir endlich Auskunft über das un-
säglich holde und doch so unglückliche Geschöpf."
Adolf berichtete: „Es ist die Tochter des Alten, und er
ist Verwalter des Kriminalgefängnisfes. Ein alter Soldat
von unzugänglichem Wesen, gegen alle Welt mißtrauisch
und verschlossen, nur gegen seine Tochter und — seine Ge-
fangenen nicht. Während er sich gegen die freie Gesellschaft
absperrt, soll er gegen die seiner Obhut Befohlenen bei aller
Pflichttreue die Menschenfreundlichkeit selbst sein, ja, man
jagt, er nenne die Gefangenen seine Kinder, welche Gott
der Stiefmutter Welt abgenomme« und an sein Herz gelegt
habe. Außer seinem traurigen Bereich sieht man ihn wenig,
dieser Garte« ist der einzige öffentliche Ort, den er im
Sommer wöchentlich ein paar Mal und immer rm Geleit >
seines Kindes besucht. Hier sah ich Beide vor acht Taaen
zum erstenmal und ich war nicht weniger wie du betroffen
von dem Anblick dieser Gestalt. Ich erfuhr erst Hinterher
ihr trauriges Loos, das sie aber kaum zu fühlen scheint,
obschon sie erst in ihrem achten Jahre nach einer Krankheit
erblindete. Ihrer Mutter schon vorher beraubt, soll sie von
ihrem Vater mit der rührendsten Sorgfalt erzogen, später
mehrere Jahre dem trefflichen Dresdener Blindeninstitut
anvertraut worden und aus demselben vor zwei Jahren
mit für ihren Zustand wunderbaren Fertigkeiten, namentlich
in der Musik, heimgekehrt und seitdem der Abgott ihres
Vaters sein. Du kannst dir denken, daß mein Wohlgefallen
an dem reizenden Wesen ein rein künstlerisches ist, da ich
mein Bräutchen in Berlin über Alles liebe und es heim-
zuführen gedenke, sobald ich ru Federn komme. Aber ich
konnte doch eine Nacht nicht schlafen vor Begierde, diese
Gestalt in meiner Mapps zu haben. Bei der Liebe, die
der Vater zu seinem Kinde hegt, dachte ich, müßte ihm ein
Gefallen geschehen, wenn sie ihm umsonst gemalt würde;
ich ging daher zu ihm — aber es fehlte wenig, so hätte er
mich zur Thüre hinausgeworfen. Ich mußte unverrichteter
Sache abziehen und mich mit diesem Diebstahl behelfen."
Jetzt erhob sich der Greis mit seiner Tochter und ver-
ließ Arm in Arm mit ihr den Garten. Dem jungen Arzte
war, als dürfe er die schöne Unglückliche nicht mehr aus
den Augen lassen, als müsse er ihr auf dem Fuße folgen
und der Erlöser aus ihrer Nacht werden — und doch stand
er wie eingewurzelt da, während sein Freund die Wirthin
herber rief und sie seinen gelungenen Raub bewundern ließ.
Darüber merkten alle Drei nicht, wie ein Polizeisergeant
sich einen Moment hinter dem dichten Robiniengebüsche
vorbeugte, vor dem der Gefängnißverwalter mit seiner
Tochter gesessen.
„Aber nun, Mutter, einen rechten Kaffee!" sagte Adolf,
die Wirthin auf die Achsel klopfend — und bringen Sie
ihn da hinaus."
Bald saßen die Freunde unter den schattigen Akazien,
Rudolf genau auf dem Platze, den Clelia, so hieß die
Blinde, innegehabt hatte.
„Meine Instrumente! meine Instrumente!" seufzte er
auf einmal auf. „Ich hätte mich lieber sollen auf die Straße
setzen lassen als die versetzen."
„Nur Geduld!" ermunterte Adolf; „es ist nun einmal
geschehen, und über lang oder kurz muß bei mir doch so
viel werden, sie einlösen zu können."
„Ach! das ist immer eine ungewisse Aussicht — wer
weiß, wenn der bequeme Englishman sich besinnt — und
mich jammert jede Minute, die ich dies holde Wesen muß
in der Nacht umherwaudeln sehen."
„Jetzt verstehe ich dich erst, du willst sie Wohl operiren ?"
„Freilich! Sonst möchten die Instrumente meinetwegen
alle semitischen Sprachen lernen und Sanskrit und Prakcit
dazu. Zur Fahrt auf den Walfischfang brauch' ich so kost-
bare Werkzeuge nicht. Es hilft nun nichts — ich muß in
den sauren Apfel beißen, muß zu meiner Tante gehen."
„Willst du nickt erst noch ein paar Tage warten? der
Lord Bullok muß sich doch nächstens erklären." —
„Nein, nein!" rief Rudolf heftig; „was du thun willst,
thue gleich! heißt des Arztes goldene Regel; ein Arzt darf
nie auf Morgen verschieben, was heute gethan werden
könnte, wenn es gilt, einem Leidenden zu helfen. Es steht
fest, ich sehe zu meiner Tante — das geizige Weib verbirgt
Nachts hundertmal mehr Geld unter ihrem Kopfkissen, als
ich bedarf, um zwei Menschen glücklich zu machen."
„Ich will dich nicht zurückhalten, versuche dein Glück,
aber wenn es fehlschlägt, so werde nicht muthlos, verzweifle
nicht." —
„Es darf nicht fehlschlagen, ich gehe der Alten nicht
eher vom Halse, bis sie etwas herausgerückt von dem, was
sie meinem Vater abgeschwindelt." —
„Du bist ja auf einmal umgewandelt — aber recht so!
geh' dem Satansknochen zu Leibe, — wie ich glaube, spielt
sie die Fromme, da male ihr, ein zweiter Michel Angelo,
das jüngste Gericht an die Wand, daß thr wird wie lauter
Heulen und Zähneklappern." —
(Fortsetzung folgt.)
Ll. 141.
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Der Souutagsbote
beigcgeben, welcher besonders für die Familie
bestimmt ist.
Das Regierungszubiläum der Königin von
England.
Die Jubiläumsfeier wurde am Sonntag
in allen K rchen London'- und des Vereinigten Kö
nigreicheS, sowie der Colonieen gefeiert. In London
waren alle Kirchen bei dem vormittägigen, dem Nach-
mittags- und Abend-Gottesdienste io gedrängt voll,
daß Tausende nicht mehr Einlaß finden konnten und
vor den Kirchen stehen blieben, um wenigstens den
gesanglichen Theil des Gottesdienstes mitzumachen
und aus vollem Herzen in die Volkshvmne einzustim-
men, die an diesem Tage in allen Kirchen gesungen
wurde. Die tiefe Loyalität der Nation kam bei diesem
Anlafse zu überwältigendem Ausdruck. Die Haupt-
- feier fand in der St. Poul's Kathedrale statt. Es
waren aber nicht nur die Großen der Welt unter der
mächtigen Kuppel des großen Domes anwesend, sondern
alle Klassen der Bevölkerung hatten sich Hierselbst ein-
gefunden, und Hunderte aus dem Arbeiterstande
standen da, in tiefer Andacht den obern Zehntausend
zur Seite. Die Königin wohnte dem Gottesdienste
in der St. GeorgSkapelle in Windsor bei, und dem
einstimmigen Urtheile der Begünstigten nach, die Zu
laß erhielten, war es eine unvergeßliche Feier. Die
Königin kam, auf den Arm ihres indischen Dieners
gestützt, in die Kirche. Sie trug ihr Wittwenkleid u.
eine kleine Wittwenhaube, unter der ihr silberweißes
Haar hervor quoll. An ihrem Kirchenstuhle angelangt,
sank sie auf die Kniee, faltete die Hände zuerst zum
Himmel, schlug sich dann vor'S Gesicht und versank
dann mit nikdergebeugtem Haupt in ein stummes Ge-
bet, wobei man bemerken konnte, daß sie ihren Thrä-
nen freien Lauf ließ. Auf einen Wink des Dechants
verstummte die Orgel und nicht ein Laut störte die
eindrucksvolle Stille. Endlich war die greise Königin
ihrer Gefühle Herr gewcrden und der Gottesdienst
begann. Als der letzte Ton des le vsum luuäamus
verklungen war, trat Kaiserin Friedrich zu ihrer
Mutter und wollte sich vor ihr zum Handkuß auf die
Kniee niederlassen, wurde aber von der Königin daran
verhindert und an die Brust gezogen. Der Reihe
nach umarmte dann die Königin ihre Kinder und
Enkel, die dann in daS 6oä savo tfts tzuosu einstimm-
ten, während die Königin wieder auf den Knieen lag.
Damit kam die Feier zu Ende und die Königin ver-
ließ am Arme der Kaiserin Friedrich die Kapelle.
Die imposanteste Fner aber war daS Hochamt
in dem BromptonOratorium. Der Zu-
drang war ganz ungeheuer, und dies nicht nur von
Seiten der Katholiken. Lange vor Beginn der kirch-
lichen Feier war in dem großen und herrlichen Got-
teShause auch nicht ein Plätzchen mehr frei, und
außerhalb desselbi N stand eine solche Menschenmenge, daß
eS den geladenen Gästen schwer fiel, Eintritt zu er-
langen. Die Vertreter fremder Mächte, darunter die Bot-
schafter von Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Spanien
und Italien, der belgische Gesandte, Erzherzog Franz
Ferdinand von Oesterreich, Herzog Albert von Wär-
temberg, Prinz Friedrich von Sachsen und Prinz
Ruprecht von Bayern (den die englischen Carlisten
als den einzigen Nachkommen der StuartS, als den
legitimen Herrscher Englands betrachten), wurden beim
Eintritt in die Kirche vom Herzog von Norfolk im
Namen der Königin empfangen und von dem königl.
Cermonienmeifter, Lord Moreton, nach ihren Sitzen
geleitet. Wer sich nicht ein fand, war der
italienische Kronprinz, der im letzten Au-
genblicke (wegen der Anwesenheit des päpstlichen
Nuntius), seine Entschuldigung gesandt hatte, waS im
Publikum sehr frei commentirt wurde.
Die Kirche mit ihr-n mit Gold eingelegten Mar-
morwänden und Marmorsäulen bot einen überwältigen-
den Anblick. Die englische katholische Aristokratie
hatte sich fast vollständig eingefunven, die Herren in
ihren militärischen und Amtsuniformen, oder im Hof-
kleide, die Damen in glänzenden Toiletten, was den
Anblick nicht wenig in seiner Wirksamkeit steigerte.
Unter den Anwesenden bemerkte man den Marquis
und die Marquise v. Ripon, Admiral Lord Walter
Kerr, Lord Denbigh, V comte Llandaff, die Häupter
der schottischen katholischen Familien im Hochland-
Kostüm, den Lord-Oberrichter Lord Rüssel, den Lord-
Oberrichter von Irland Sir Peter O'Brien, Richter
Mathews und den protestantischen berühmten Richter
Sir Henry HawkinS, dessen Hinneigung zum Katho-
l'ciSmuS bekannt ist. Der Premier Minister von
Canada Mr. Lancier und der Premier Minister von
Neuseeland waren gleichfalls anwesend und ebenso
die Vertreter von Argentinien, Brasilien, Mexico,
Chile, Peru, Colombia und Urugnai, alle in gold-
strotzenden Uniformen.
DaS Hochamt celebrirte der päpstliche Nuntius,
Erzbischof Sambucetti, umgeben von einem glänzenden
Gefolge hoher kirchlicher Würdenträger in ihren
herrlichen weißen und goldgestickten Ornaten, von denen
sich Cardinal Vaughan in seiner purpurnen OaxpamaZna.
wirksam abhob. Zum Schlüsse des Tedeums wurde
Cardinal Vaughan'S Hirtenbrief von den Altarstufen
verlesen.
Auch in allen andern katholischen Kirchen fand
ein Dankgottesdienst in feierlicher Weise statt, und
am Abend gingen von vielen katholischen Kirchen
Processionen aus, die wohl das auffälligste Wahr-
zeichen der Wandlung bezeichnen, die sich den Katho-
liken gegenüber unter der Regierung der Königin
Viktoria vollzogen hat, eine Wandlung, die nicht nur
von oben kommt, sondern auch, waS daS Erfreulichste
ist, sich bis ganz nach unten erstreckt hat. Was
beim Regierungsantritt der Königin verboten war
und zu Ruhestörungen geführt hätte, ist heute nicht
nur geduldet, sondern hat auch einen solchen Halt
beim Volke gefunden, daß heute in den
Straßen keine kat h o l is che P roz ess i o n vor-
überzieht, ohne daß alle Häupter entblößt würden,
und alles in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrt!
Welche Wandlung der Zeiten!
Deutsches Reich.
* Berlin, 23. Juni. Die Session des preußischen
Landtages wird voraussichtlich am 1. Juli geschlossen
werden.
* Berlin, 23. Juni. Der Nordd. Allg. zufolge
ist die reichsgesetzliche Regelung des Hypotheken-
wesens jetzt von Neuem in Angriff zu nehmen.
* Köln, 23. Juni. Die „Kölnische Zig." mel-
det aus Luxemburg, Graf Henkel von Donners-
mark, BotschaftSrath in Konstantinopel, ist Mm
deutschen Ministerpräsidenten in Luxemburg ernannt
worden.
* Wiesbaden, 23. Juni. Die Reichstags-
stichwahl ergab in der Stadt Wiesbaden
2 Blind und doch sehend.
Mit immer größerer Erregung mußte Rudolf das von
der Natur mit verschwenderischem Reiz auSgeftattete
Wesen betrachten; immer und immer wieder stahl sich
! sein Blick zu ihr hinüber und kehrte trunken zu der
entstehenden Skizze des Freundes zurück. Auf einmal
trübte sich seine entrückte Miene und er rief erblassend:
„O Gott! o Gott!"
Eben war Adolf mit seiner Zeichnung fertig und legte
sie jenem mit der Frage vor: „Ist sie getroffen?"
.Vollkommen — kein Zug verfehlt" — bezeugte Rudolf
— „aber ich bin erschrocken, daß mir das Blut in den
Adern starrt, — das herrliche Geschöpf ist ja blind!"
„Leider!" bestätigte Adolf, „es ist, als habe es die
Natur gereut, ein allzu vollkommenes Werk geschaffen zu
haben, und sie habe durch das Erblmdenlaffen ihr Versehen
wieder gut machen wollen. Aber du hast es sogleich erkannt,
daß sie blind ist, obschon ihre tiefblauen Augen aus dieser
Entfernung gesehen, völlig gesund zu sein scheinen?"
„Ick müßte nicht die Augenheilkunde zu meinem Lieb-
lingsstudium gemacht haben, wenn ich das nicht erkennen
wollte," sagte Rudolf. „Ich wollte eine Staaroperation im
Finstern vornehmen, so genau habe ick das menschliche Auge
studirt- Doch nun gib mir endlich Auskunft über das un-
säglich holde und doch so unglückliche Geschöpf."
Adolf berichtete: „Es ist die Tochter des Alten, und er
ist Verwalter des Kriminalgefängnisfes. Ein alter Soldat
von unzugänglichem Wesen, gegen alle Welt mißtrauisch
und verschlossen, nur gegen seine Tochter und — seine Ge-
fangenen nicht. Während er sich gegen die freie Gesellschaft
absperrt, soll er gegen die seiner Obhut Befohlenen bei aller
Pflichttreue die Menschenfreundlichkeit selbst sein, ja, man
jagt, er nenne die Gefangenen seine Kinder, welche Gott
der Stiefmutter Welt abgenomme« und an sein Herz gelegt
habe. Außer seinem traurigen Bereich sieht man ihn wenig,
dieser Garte« ist der einzige öffentliche Ort, den er im
Sommer wöchentlich ein paar Mal und immer rm Geleit >
seines Kindes besucht. Hier sah ich Beide vor acht Taaen
zum erstenmal und ich war nicht weniger wie du betroffen
von dem Anblick dieser Gestalt. Ich erfuhr erst Hinterher
ihr trauriges Loos, das sie aber kaum zu fühlen scheint,
obschon sie erst in ihrem achten Jahre nach einer Krankheit
erblindete. Ihrer Mutter schon vorher beraubt, soll sie von
ihrem Vater mit der rührendsten Sorgfalt erzogen, später
mehrere Jahre dem trefflichen Dresdener Blindeninstitut
anvertraut worden und aus demselben vor zwei Jahren
mit für ihren Zustand wunderbaren Fertigkeiten, namentlich
in der Musik, heimgekehrt und seitdem der Abgott ihres
Vaters sein. Du kannst dir denken, daß mein Wohlgefallen
an dem reizenden Wesen ein rein künstlerisches ist, da ich
mein Bräutchen in Berlin über Alles liebe und es heim-
zuführen gedenke, sobald ich ru Federn komme. Aber ich
konnte doch eine Nacht nicht schlafen vor Begierde, diese
Gestalt in meiner Mapps zu haben. Bei der Liebe, die
der Vater zu seinem Kinde hegt, dachte ich, müßte ihm ein
Gefallen geschehen, wenn sie ihm umsonst gemalt würde;
ich ging daher zu ihm — aber es fehlte wenig, so hätte er
mich zur Thüre hinausgeworfen. Ich mußte unverrichteter
Sache abziehen und mich mit diesem Diebstahl behelfen."
Jetzt erhob sich der Greis mit seiner Tochter und ver-
ließ Arm in Arm mit ihr den Garten. Dem jungen Arzte
war, als dürfe er die schöne Unglückliche nicht mehr aus
den Augen lassen, als müsse er ihr auf dem Fuße folgen
und der Erlöser aus ihrer Nacht werden — und doch stand
er wie eingewurzelt da, während sein Freund die Wirthin
herber rief und sie seinen gelungenen Raub bewundern ließ.
Darüber merkten alle Drei nicht, wie ein Polizeisergeant
sich einen Moment hinter dem dichten Robiniengebüsche
vorbeugte, vor dem der Gefängnißverwalter mit seiner
Tochter gesessen.
„Aber nun, Mutter, einen rechten Kaffee!" sagte Adolf,
die Wirthin auf die Achsel klopfend — und bringen Sie
ihn da hinaus."
Bald saßen die Freunde unter den schattigen Akazien,
Rudolf genau auf dem Platze, den Clelia, so hieß die
Blinde, innegehabt hatte.
„Meine Instrumente! meine Instrumente!" seufzte er
auf einmal auf. „Ich hätte mich lieber sollen auf die Straße
setzen lassen als die versetzen."
„Nur Geduld!" ermunterte Adolf; „es ist nun einmal
geschehen, und über lang oder kurz muß bei mir doch so
viel werden, sie einlösen zu können."
„Ach! das ist immer eine ungewisse Aussicht — wer
weiß, wenn der bequeme Englishman sich besinnt — und
mich jammert jede Minute, die ich dies holde Wesen muß
in der Nacht umherwaudeln sehen."
„Jetzt verstehe ich dich erst, du willst sie Wohl operiren ?"
„Freilich! Sonst möchten die Instrumente meinetwegen
alle semitischen Sprachen lernen und Sanskrit und Prakcit
dazu. Zur Fahrt auf den Walfischfang brauch' ich so kost-
bare Werkzeuge nicht. Es hilft nun nichts — ich muß in
den sauren Apfel beißen, muß zu meiner Tante gehen."
„Willst du nickt erst noch ein paar Tage warten? der
Lord Bullok muß sich doch nächstens erklären." —
„Nein, nein!" rief Rudolf heftig; „was du thun willst,
thue gleich! heißt des Arztes goldene Regel; ein Arzt darf
nie auf Morgen verschieben, was heute gethan werden
könnte, wenn es gilt, einem Leidenden zu helfen. Es steht
fest, ich sehe zu meiner Tante — das geizige Weib verbirgt
Nachts hundertmal mehr Geld unter ihrem Kopfkissen, als
ich bedarf, um zwei Menschen glücklich zu machen."
„Ich will dich nicht zurückhalten, versuche dein Glück,
aber wenn es fehlschlägt, so werde nicht muthlos, verzweifle
nicht." —
„Es darf nicht fehlschlagen, ich gehe der Alten nicht
eher vom Halse, bis sie etwas herausgerückt von dem, was
sie meinem Vater abgeschwindelt." —
„Du bist ja auf einmal umgewandelt — aber recht so!
geh' dem Satansknochen zu Leibe, — wie ich glaube, spielt
sie die Fromme, da male ihr, ein zweiter Michel Angelo,
das jüngste Gericht an die Wand, daß thr wird wie lauter
Heulen und Zähneklappern." —
(Fortsetzung folgt.)