MOtz d 297
ich so viele Creaturen bey Hofe den Gegenstand ih-
rer liebe in einer Stunde zuerst umarmen, ihm
' Beständigkeit schwören, und ihn eben so gelassen
vergessen sah, als sie selbst vergessen wurden. Ich
hatte diese kaltsinnigen Empfindungen ehedessen ein
Laster, und eine Entweihung der Liebe gescholten.
Die wahre Zärtlichkeit schien mir an ihrer Stelle
ihund Thorheit zu seyn. Man überlasse sie, sprach
ich bey mir selbst, der Einbildungskraft der Dich-
ter, ebenso, wie die Vollkommenheit der Tugend
den Lobsprüchen der Moralisten. Man ist in der
Welt weder bey den Vergnügungen der Zärtlich-
keit, noch bey den Annehmlichkeiten der Tugend
vollkommen zufrieden. Sie machen uns meisten-
theils unglücklich. Man seufzt, indem man sie
genießt, und man muß aufhören, ein Mensch zu
seyn, wenn man sie ohne Seufzer gemeßen will.
Wie oft war ich von dem Gegentheil dieser Be-
trachtungen überzeugt gewesen, wenn ich sie mit
. einem gehörigen Kaltsinn eingestellt hatte! Ich
floh vergeblich zu meinem Freunde, in seinen Ar-
men eine Zuflucht wider meine Vetrübniß zu fin-
den. Ich verdoppelte sie daselbst. Jeder Kuß,
den er seiner Gemahlin gab, jedeZärtlichkeit,mit
der sie diesen Kuß belohnte, verwundete mein
Herz. Warum konnte ich sie doch in eben dem
Augenblicke nicht auch von Carolinen genießen?
Ich verließ meinen Freund, dessen Vorstellungen
mich nicht beruhigen kannten. Ich suchte Trost
in der Einsamkeit, und der Stand, zu dem ich
ihund mir zum Unglück erhaben war, erlaubte mir
T 5 nicht,
ich so viele Creaturen bey Hofe den Gegenstand ih-
rer liebe in einer Stunde zuerst umarmen, ihm
' Beständigkeit schwören, und ihn eben so gelassen
vergessen sah, als sie selbst vergessen wurden. Ich
hatte diese kaltsinnigen Empfindungen ehedessen ein
Laster, und eine Entweihung der Liebe gescholten.
Die wahre Zärtlichkeit schien mir an ihrer Stelle
ihund Thorheit zu seyn. Man überlasse sie, sprach
ich bey mir selbst, der Einbildungskraft der Dich-
ter, ebenso, wie die Vollkommenheit der Tugend
den Lobsprüchen der Moralisten. Man ist in der
Welt weder bey den Vergnügungen der Zärtlich-
keit, noch bey den Annehmlichkeiten der Tugend
vollkommen zufrieden. Sie machen uns meisten-
theils unglücklich. Man seufzt, indem man sie
genießt, und man muß aufhören, ein Mensch zu
seyn, wenn man sie ohne Seufzer gemeßen will.
Wie oft war ich von dem Gegentheil dieser Be-
trachtungen überzeugt gewesen, wenn ich sie mit
. einem gehörigen Kaltsinn eingestellt hatte! Ich
floh vergeblich zu meinem Freunde, in seinen Ar-
men eine Zuflucht wider meine Vetrübniß zu fin-
den. Ich verdoppelte sie daselbst. Jeder Kuß,
den er seiner Gemahlin gab, jedeZärtlichkeit,mit
der sie diesen Kuß belohnte, verwundete mein
Herz. Warum konnte ich sie doch in eben dem
Augenblicke nicht auch von Carolinen genießen?
Ich verließ meinen Freund, dessen Vorstellungen
mich nicht beruhigen kannten. Ich suchte Trost
in der Einsamkeit, und der Stand, zu dem ich
ihund mir zum Unglück erhaben war, erlaubte mir
T 5 nicht,