Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Prinzhorn, Hans
Bildnerei der Geisteskranken: ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung — Berlin, 1922

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11460#0326
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
alles Vertraute uns unbegreiflich fern und fremd geworden ist. Psyche-patho-
logisch gesprochen, wir können, indem wir uns in dies Bild versenken, das Er-
lebnis der „Entfremdung der Wahrnehmungswelt" uns so eindringlich ver-
mitteln, wie es nicht leicht auf andere Weise möglich ist. Ob Pohl selbst be-
wußt ein solches Erlebnis in seinem Bilde gestalten wollte, entzieht sich unserer
Kenntnis. Neben der Tatsache, daß uns das Entfremdungsphänomen an diesem
Werk einmal direkt zugänglich wird, bedeutet jener Mangel nicht viel.

Schließlich der Würgengel Abb. 167 (siehe Titelbild), in dem alles gipfelt, was
an wertvollen steigernden Impulsen in der schizophrenen Seelenverfassung ge-
funden wurde. In seinem funkelnden Strahlenkranze bricht der Engel von
oben herein, den linken Arm mit langem Griff vorstreckend, in der Rechten
das Schwert fast bedächtig quer vor seinem Gesicht haltend. Zwischen den
Händen steht sein linker Fuß auf der Kehle eines Menschen, der mit der Rech-
ten sich zum Halse fährt, während die Linke den Herabdringenden abzuwehren
trachtet. Die Beine des Überfallenen schlagen am rechten Bildrand in die
Höhe, und zwar verdreht, von hinten gesehen. Das Gewirr der Glieder auf
dem engen Bildraume ist bei aller grauenhaften Drastik auch kompositorisch
gemeistert, ja die Art, wie die Dynamik aller Bewegungsimpulse eben so weit
geordnet wird, daß man eine klare Ubersicht gewinnt, ohne das Gefühl der
gewaltigen Spannung zu verlieren, hat etwas schlechthin Grandioses. Und
diesem hohen Niveau entspricht die Farbe: Wie die ganze Skala aufgeboten
wird, um in schreiendem Rot, Grün, Blau dem Vorgang Genüge zu leisten —
und diese grellen Kontraste doch gebunden werden durch gelbgrüne Halbtöne,
die nach den Rändern zu dunkler werden — das zeigt dieselbe Tendenz, wie die
Spannung der Formen und dieselbe souveräne Meisterschaft. Angesichts dieses
Werkes von Grünewald und Dürer zu reden, ist gewiß keine Blasphemie.
Alles, was wir im Verlaufe von Pohls Schaffen für ihn charakteristisch fanden,
spiegelt sich in diesem Hauptwerk. In dem Strahlenkranze des Engels klingt
die Kunstschlosserei an, wobei ein technischer Kunstgriff sich als sehr wirksam
erweist: mit einer harten Spitze sind Wellenlinien in Strahlenrichtung in das
Papier gepreßt. Die überzeugende Gewalt des Grauens aus den halluzinato-
rischen Bildern beherrscht den ganzen Eindruck. Eine gewisse natürliche
Schlichtheit trotz aller übersteigerter Spannungen in Form und Farbe gibt einen
Schimmer von Abgeklärtheit, der wiederum altmeisterhch anmutet.

Was ist hier schizophren? Wir vermögen es nicht sicher zu sagen. Aber wir
stehen hier auch an dem Punkte, wo wir erklären müssen: wenn dieser Würg-

287
 
Annotationen