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Usurpation und Legitimität: Die Neufassung Pippins I.
Gesetze üblicherweise auf solchen Zusammenkünften der Spitze des Reichs
bekannt gemacht wurden. „Damals hielt König Pippin eine Versammlung in
Worms ab und machte keinen Feldzug, er verblieb in der Francia und verhandelte
mit Waifar und Tassilo."148 Der Lobpreis fränkischer Identität im Prolog zur Lex
Salica gewinnt dann eine neue Dimension. Pippin befand sich zu diesem Zeit-
punkt mit zwei Völkern in Konflikt, die sich auf ehrwürdige Rechtstraditionen
stützen konnten. Die Einwohner Aquitaniens, von der hofnahen Chronik ab-
schätzig als Vascones verunglimpft, verstanden sich selbst als Romani und lebten
nach dem im Breviar Alarichs II. publizierten römischen Recht.149 Die Baiuwaren
hatten sich wenige Jahre zuvor ein eigenes Rechtsbuch gegeben, das eine jahr-
hundertealte Tradition vortäuschte, indem es sich in die Nachfolge der großen
antiken Gesetzgeber von Moses bis Theodosius II. stellte. Im Prolog der Lex Salica
glänzt dagegen das Erbe der römischen Gesetzgebung durch Abwesenheit. Die
Römer werden vielmehr im Prolog als Christenverfolger verleumdet. Im
Haupttext begegnet die bekannte Unterordnung der Römer, welche nur die
Hälfte des Wergeids eines Franken in Anspruch nehmen dürfen. Diese Herab-
würdigung kann sich nicht gegen Stadtrom richten, das sich in Gestalt des
Papsttums in enger politischer Allianz mit den Franken befand. Indirektes Ob-
jekt der Diatribe könnten vielmehr die Einwohner Aquitaniens sein. Implizit ist
meines Erachtens auch eine Stoßrichtung gegen die Geschichtskonstruktion des
Prologs der Lex Baiuvariorum denkbar. Der Autor des Lex Salica-Prologs stellt
gegen die Anbindung an Moses und Theodosius die Einzigartigkeit der Franken,
ihre militärische Überlegenheit und die Auserwähltheit durch Gott. Dass damit
wenige Jahre nach der Mönchung Childerichs III. die Merowinger in glänzen-
dem Licht dastehen, nimmt der Autor offensichtlich in Kauf. Pippin saß seit
zwölf Jahren Königsherrschaft fest im Sattel.
Die Stiftung von Kontinuität durch die Neufassung der Lex Salica erscheint
damit in einem neuen Licht. Während der Dynastiewechsel durch die Salbung
eine bewusste Abkehr und einen deutlichen Neuanfang unter päpstlicher Obhut
darstellte, war es ein Jahrzehnt später angebracht, in Zeiten des Konflikts mit
Baiuwaren und Aquitaniern die Kontinuität mit der merowingischen Herrschaft
zu akzentuieren. Die D-Fassung beginnt im Prolog mit der Erwähnung von
König Chlodwig, nennt im Epilog die Könige Chlothar und Childebert und fügt
in der Königsliste eine lückenlose Reihe der spätmerowingischen „Einheitskö-
nige" unter karolingischer Vorherrschaft an. Diese Tatsache der Kontinuitäts-
stiftung kann am besten durch den Kontext der Gesetzgebung erklärt werden.
148 Tune rex Pippinus habuit placitum suum ad Wormatiam et nullum iter aliud fecit, nisi in Francia resedit,
causam pertractabat inter Waifarium et Tassilonem. Annales regni Francorum a. 764, S. 22. Vgl. BM2
98d.
149 Vgl. Rouche, L'Aquitaine, S. 109. Nur einmal werden sie als Romani bezeichnet in Continuationes
chronicarum quae dicuntur Fredegarii 21, S. 180. Nach der Unterwerfung bestätigte Pippin die
Geltung des römischen Rechts für die Romani: Capitulare Aquitanicum c. 10, in: MGH Capit. I,
S. 43. Dass die Romani des langen Prologs die Aquitanier meinen könnten, schlägt neuerdings
auch Stoclet, Fils du Martel, S. 176, vor. Innes, Immune from heresy, S. 103, sieht hingegen einen
Zusammenhang zwischen dem langen Prolog und der Rechtfertigung des aquitanischen Kriegs
wegen der Entfremdung von Kirchengut.
Usurpation und Legitimität: Die Neufassung Pippins I.
Gesetze üblicherweise auf solchen Zusammenkünften der Spitze des Reichs
bekannt gemacht wurden. „Damals hielt König Pippin eine Versammlung in
Worms ab und machte keinen Feldzug, er verblieb in der Francia und verhandelte
mit Waifar und Tassilo."148 Der Lobpreis fränkischer Identität im Prolog zur Lex
Salica gewinnt dann eine neue Dimension. Pippin befand sich zu diesem Zeit-
punkt mit zwei Völkern in Konflikt, die sich auf ehrwürdige Rechtstraditionen
stützen konnten. Die Einwohner Aquitaniens, von der hofnahen Chronik ab-
schätzig als Vascones verunglimpft, verstanden sich selbst als Romani und lebten
nach dem im Breviar Alarichs II. publizierten römischen Recht.149 Die Baiuwaren
hatten sich wenige Jahre zuvor ein eigenes Rechtsbuch gegeben, das eine jahr-
hundertealte Tradition vortäuschte, indem es sich in die Nachfolge der großen
antiken Gesetzgeber von Moses bis Theodosius II. stellte. Im Prolog der Lex Salica
glänzt dagegen das Erbe der römischen Gesetzgebung durch Abwesenheit. Die
Römer werden vielmehr im Prolog als Christenverfolger verleumdet. Im
Haupttext begegnet die bekannte Unterordnung der Römer, welche nur die
Hälfte des Wergeids eines Franken in Anspruch nehmen dürfen. Diese Herab-
würdigung kann sich nicht gegen Stadtrom richten, das sich in Gestalt des
Papsttums in enger politischer Allianz mit den Franken befand. Indirektes Ob-
jekt der Diatribe könnten vielmehr die Einwohner Aquitaniens sein. Implizit ist
meines Erachtens auch eine Stoßrichtung gegen die Geschichtskonstruktion des
Prologs der Lex Baiuvariorum denkbar. Der Autor des Lex Salica-Prologs stellt
gegen die Anbindung an Moses und Theodosius die Einzigartigkeit der Franken,
ihre militärische Überlegenheit und die Auserwähltheit durch Gott. Dass damit
wenige Jahre nach der Mönchung Childerichs III. die Merowinger in glänzen-
dem Licht dastehen, nimmt der Autor offensichtlich in Kauf. Pippin saß seit
zwölf Jahren Königsherrschaft fest im Sattel.
Die Stiftung von Kontinuität durch die Neufassung der Lex Salica erscheint
damit in einem neuen Licht. Während der Dynastiewechsel durch die Salbung
eine bewusste Abkehr und einen deutlichen Neuanfang unter päpstlicher Obhut
darstellte, war es ein Jahrzehnt später angebracht, in Zeiten des Konflikts mit
Baiuwaren und Aquitaniern die Kontinuität mit der merowingischen Herrschaft
zu akzentuieren. Die D-Fassung beginnt im Prolog mit der Erwähnung von
König Chlodwig, nennt im Epilog die Könige Chlothar und Childebert und fügt
in der Königsliste eine lückenlose Reihe der spätmerowingischen „Einheitskö-
nige" unter karolingischer Vorherrschaft an. Diese Tatsache der Kontinuitäts-
stiftung kann am besten durch den Kontext der Gesetzgebung erklärt werden.
148 Tune rex Pippinus habuit placitum suum ad Wormatiam et nullum iter aliud fecit, nisi in Francia resedit,
causam pertractabat inter Waifarium et Tassilonem. Annales regni Francorum a. 764, S. 22. Vgl. BM2
98d.
149 Vgl. Rouche, L'Aquitaine, S. 109. Nur einmal werden sie als Romani bezeichnet in Continuationes
chronicarum quae dicuntur Fredegarii 21, S. 180. Nach der Unterwerfung bestätigte Pippin die
Geltung des römischen Rechts für die Romani: Capitulare Aquitanicum c. 10, in: MGH Capit. I,
S. 43. Dass die Romani des langen Prologs die Aquitanier meinen könnten, schlägt neuerdings
auch Stoclet, Fils du Martel, S. 176, vor. Innes, Immune from heresy, S. 103, sieht hingegen einen
Zusammenhang zwischen dem langen Prolog und der Rechtfertigung des aquitanischen Kriegs
wegen der Entfremdung von Kirchengut.