Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte
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der Gefahr, ihre Phänomene dem Paradigma der Evolution unterzuordnen. Wie
Lawrence Rosen feststellte, erscheint nichts plausibler, als eine Entwicklung von
irrationalen zu rationalen Beweismitteln, von Rache über Kompensation zu
moderner Strafe, von Statusbehauptungen zu kontraktuellen Verhältnissen an-
zunehmen.34 In der deutschen rechtsgeschichtlichen Forschung hat das Para-
digma der Evolution durch den Einfluss des Soziologen Niklas Luhmann be-
sonders in den letzten Jahrzehnten einen neuen Aufschwung erfahren.35 Das
Problem eines solchen methodischen Zugriffs ist, dass historische Phänomene
aus den sie umgebenden kulturellen Zusammenhängen herausgerissen und eine
Autonomie des Rechts angenommen wird, die es so nicht gegeben hat.36 Die
Bedeutung von Gottesurteilen, Eidhelfern, Wergeld und anderen Elementen
einer uns fremden Rechtskultur erschließen sich erst in der Zusammenschau mit
den religiösen, politischen und kulturellen Überzeugungen einer Gemeinschaft.
Lawrence Rosen bringt es auf den Punkt: „As in art and politics, many of the
central precepts of any legal scheme are ultimately inseparable from the cultural
constructs that render them meaningful."37
Wenn ich eine evolutionäre Perspektive eingenommen und allein die Ver-
bindungslinien zur späteren Entwicklung isoliert hätte, wäre ein ganz anderes
Buch herausgekommen. Die Art und Weise, wie die Lex Salica einen gezielten
Bruch mit der Dominanz des römischen Rechts herbeiführte, wäre gar nicht in
den Blick gekommen, weil Recht von den Franken für etwas verwendet wurde,
was in der Geschichte der Moderne keine Entsprechung hat: für die Akzentu-
ierung ethnischer Identität. Es wäre auch nicht davon die Rede gewesen, dass
das Modell einer gentilen Rechtsordnung immer wieder in Frage gestellt, ad-
aptiert und kreativ umfunktioniert wurde. Ich erinnere nur daran, dass die
Franken um Köln mit der Lex Ribuaria und die Franken im Mündungsgebiet des
Rheins mit der Ewa ad Amorem eigene Rechtsbücher erhalten haben, ohne dass
damit die Stabilisierung einer ethnischen Identität bezweckt worden wäre. In
Köln und am Rhein-Delta waren es regionale Gruppen von Franken, die beim
König um ein eigenes Rechtsbuch geworben haben und dabei erfolgreich waren.
Es wäre ebenso nicht davon die Rede gewesen, dass die Abgrenzung von
weltlichem und kirchlichem Recht immer neu ausgehandelt werden musste und
nicht selten ganz kollabierte - wie in dem Fall des sammelnden Fälschers Be-
nedictus Levita. Es wäre zuletzt auch nicht von den vielen Ambivalenzen und
Spannungen zwischen Imperium, Christentum und fränkischer Identität die
Rede gewesen, welche die Rechtskultur der Zeit Karls des Großen prägten und
die auch sein Sohn Ludwig der Fromme nicht auflösen konnte, weil sie für die
34 Rosen, Lawas Culture, S. 54-60. Vgl. auch Miller, Eyefor an Eye, S. 25 und Lepsius, Richter, S. 28-36.
35 Luhmann, Rechtssoziologie; ders., Recht; ders., Ausdifferenzierung. Einflussreich waren die Arbeiten
von Fögen, Römische Rech tsgesch ich ten, und dies., Rechtsgeschichte. Problematisiert wird meistens
der systemtheoretische Aspekt, weniger der Evolutionsgedanke: Esders, Rechtsdenken; Oexle,
Luhmanns Mittelalter; Thier, Systemtheorie; Patzold, Verhandeln.
36 Vgl. die kritischen Bemerkungen zu Luhmann bei Latour, La fabrique du loi, S. 272-286.
37 Rosen, Law as Culture, S. 92.
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der Gefahr, ihre Phänomene dem Paradigma der Evolution unterzuordnen. Wie
Lawrence Rosen feststellte, erscheint nichts plausibler, als eine Entwicklung von
irrationalen zu rationalen Beweismitteln, von Rache über Kompensation zu
moderner Strafe, von Statusbehauptungen zu kontraktuellen Verhältnissen an-
zunehmen.34 In der deutschen rechtsgeschichtlichen Forschung hat das Para-
digma der Evolution durch den Einfluss des Soziologen Niklas Luhmann be-
sonders in den letzten Jahrzehnten einen neuen Aufschwung erfahren.35 Das
Problem eines solchen methodischen Zugriffs ist, dass historische Phänomene
aus den sie umgebenden kulturellen Zusammenhängen herausgerissen und eine
Autonomie des Rechts angenommen wird, die es so nicht gegeben hat.36 Die
Bedeutung von Gottesurteilen, Eidhelfern, Wergeld und anderen Elementen
einer uns fremden Rechtskultur erschließen sich erst in der Zusammenschau mit
den religiösen, politischen und kulturellen Überzeugungen einer Gemeinschaft.
Lawrence Rosen bringt es auf den Punkt: „As in art and politics, many of the
central precepts of any legal scheme are ultimately inseparable from the cultural
constructs that render them meaningful."37
Wenn ich eine evolutionäre Perspektive eingenommen und allein die Ver-
bindungslinien zur späteren Entwicklung isoliert hätte, wäre ein ganz anderes
Buch herausgekommen. Die Art und Weise, wie die Lex Salica einen gezielten
Bruch mit der Dominanz des römischen Rechts herbeiführte, wäre gar nicht in
den Blick gekommen, weil Recht von den Franken für etwas verwendet wurde,
was in der Geschichte der Moderne keine Entsprechung hat: für die Akzentu-
ierung ethnischer Identität. Es wäre auch nicht davon die Rede gewesen, dass
das Modell einer gentilen Rechtsordnung immer wieder in Frage gestellt, ad-
aptiert und kreativ umfunktioniert wurde. Ich erinnere nur daran, dass die
Franken um Köln mit der Lex Ribuaria und die Franken im Mündungsgebiet des
Rheins mit der Ewa ad Amorem eigene Rechtsbücher erhalten haben, ohne dass
damit die Stabilisierung einer ethnischen Identität bezweckt worden wäre. In
Köln und am Rhein-Delta waren es regionale Gruppen von Franken, die beim
König um ein eigenes Rechtsbuch geworben haben und dabei erfolgreich waren.
Es wäre ebenso nicht davon die Rede gewesen, dass die Abgrenzung von
weltlichem und kirchlichem Recht immer neu ausgehandelt werden musste und
nicht selten ganz kollabierte - wie in dem Fall des sammelnden Fälschers Be-
nedictus Levita. Es wäre zuletzt auch nicht von den vielen Ambivalenzen und
Spannungen zwischen Imperium, Christentum und fränkischer Identität die
Rede gewesen, welche die Rechtskultur der Zeit Karls des Großen prägten und
die auch sein Sohn Ludwig der Fromme nicht auflösen konnte, weil sie für die
34 Rosen, Lawas Culture, S. 54-60. Vgl. auch Miller, Eyefor an Eye, S. 25 und Lepsius, Richter, S. 28-36.
35 Luhmann, Rechtssoziologie; ders., Recht; ders., Ausdifferenzierung. Einflussreich waren die Arbeiten
von Fögen, Römische Rech tsgesch ich ten, und dies., Rechtsgeschichte. Problematisiert wird meistens
der systemtheoretische Aspekt, weniger der Evolutionsgedanke: Esders, Rechtsdenken; Oexle,
Luhmanns Mittelalter; Thier, Systemtheorie; Patzold, Verhandeln.
36 Vgl. die kritischen Bemerkungen zu Luhmann bei Latour, La fabrique du loi, S. 272-286.
37 Rosen, Law as Culture, S. 92.