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Ubl, Karl
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 9): Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs: die "Lex Salica" im Frankenreich — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73537#0253
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252

Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte

Es wäre also verfehlt, mit der Krise des Königtums auch ein abruptes Ende
der Rechtskultur anzunehmen. Als im späten 10. Jahrhundert durch Abbo von
Fleury erstmals wieder eine neue Rechtssammlung erstellt wurde, schloss der
gelehrte Mönch fast bruchlos an Ideen eines Hinkmar von Reims an: Abbo berief
sich auf das Recht der karolingischen Könige sowie auf das der römischen
Kaiser.29 In seinem Werk, das er den kapetingischen Königen widmete, griff er
somit genau auf diejenigen Rechtsquellen zurück, die bereits für Hinkmar von
Reims und Karl den Kahlen im Zentrum des Interesses standen.30 Römisches
Recht und Kapitularien flossen ebenfalls in die Sammlung des Kirchenrechts ein,
die Regino von Prüm am Anfang des 10. Jahrhunderts kompilierte.31 Über diesen
Weg sind erhebliche Bestandteile der fränkischen Rechtskultur in das Kirchen-
recht des 10. und 11. Jahrhunderts eingedrungen, ja sie wurden zu kleinen Teilen
auch im Dekret Gratians rezipiert, dem Hauptwerk der Rechtsrevolution des
12. Jahrhunderts.32
Diese Einblicke in die Geschichte des 10. und 11. Jahrhunderts können im
Rahmen meines Buchs nur an der Oberfläche bleiben. Um die Kontinuitäten zur
Rechtsgeschichte des 12. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, hätte ich weniger
auf den Kern des Frankenreichs blicken müssen als vielmehr an seinen Rand,
nach England und Italien, wo die Verbindungen zur karolingischen Rechtskultur
stärker ausgeprägt sind. Hier sei nur an die klassischen Studien von Julius
Goebel, Patrick Wormald und Charles Radding erinnert.33 Angesichts dieser
Kontinuitätslinien erscheint es mir durchaus gerechtfertigt, eine Verbindung
zwischen der Rechtskultur des frühen Mittelalters und den Umwälzungen im
12. Jahrhundert zu ziehen. Das Frankenreich war ein politisches Gebilde, das auf
einer normativen Ordnung aufruhte und in der die Rechtsbücher eine wichtige
politische Funktion erfüllten. Metaphern wie „Revolution" und „Urknall" sug-
gerieren, dass die neuen Phänomene allein aus sich selbst zu erklären sind und
keine wesentlichen Verbindungslinien zur vorangegangenen Zeit aufweisen.
Eine solche Sicht ist ebenso einseitig wie es falsch wäre zu leugnen, dass mit dem
Aufkommen des Juristenstandes, der Verwissenschaftlichung des Rechts und
der Institutionalisierung des Unterrichts neue Bedingungen geschaffen wurden,
die im Frankenreich des früheren Mittelalters nicht existiert haben.
Ich habe dieses Buch aber nicht mit dem Ziel geschrieben, solche Verbin-
dungslinien aufzuweisen und das Narrativ der Revolution des Rechts im
12. Jahrhundert in Zweifel zu ziehen. Es geht mir nicht darum, die Erzählung der
Revolution durch eine Gegenerzählung der Kontinuität zu ersetzen. Die
Rechtsgeschichte unterliegt nämlich - vielleicht mehr als andere Disziplinen -

29 Abbo, Collectio canonum c. 6, Sp. 480 und c. 11, Sp. 482, c. 14, Sp. 484. Vgl. Roumy, Remarques,
S. 323-326; Mostert, Political theology, S. 108-112.

30 Vgl. Brunterc'h, Un monde, S. 417; Poly, Le sac de cuir; Koal, Studien, S. 61-65. Zum Einfluss auf
die Gottesfriedensbewegung vgl. Magnou-Nortier, Enemies of the Peace, S. 59-65.

31 Vgl. Schmitz, Ansegis und Regino; Siems, Begrifflichkeit; Ubl, Doppelmoral.

32 Koal, Studien, S. 92.

33 Goebel, Felony and Misdemeanor; Wormald, Papers, S. 98-129; Radding, Le origini; Rad ding/Ciaralli,
Corpus Iuris.
 
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