80
III. Der König und seine Bischöfe
3. Exkurs: Der Fall Wenilos in der Historiographie
Obwohl der Fall Wenilos weitreichende Bedeutung für politische Ordnungs-
vorstellungen hinsichtlich von König- und Bischofsamt, Hierarchien und Eide
hatte, findet er keinen entsprechenden Niederschlag in der zeitgenössischen
Historiographie. In der wichtigsten Quelle für das westfränkische Reich zu der
Zeit, den Annales Bertiniani, findet sich nur der oben diskutierte lapidare Hin-
weis, dass Karl der Kahle sich mit Wenilo ohne die Anhörung der Bischöfe
versöhnte.
Zum Zeitpunkt der Anklage gegen Wenilo wurden die Annales Bertiniani
von Bischof Prudentius von Troyes geführt. Seine Darstellung steht in auffälli-
gem Widerspruch zu der Schilderung und Verarbeitung späterer Bischofsan-
klagen oder -absetzungen durch Hinkmar von Reims, der die Führung der
Annalen ab 861 übernahm. So ist Hinkmar zwar die treibende Kraft hinter dem
Synodalschreiben von Quierzy und allgemein ist zu konstatieren, dass er sich
gerade ab Mitte der 850er Jahre in einer ersten Hochphase seiner Textproduktion
befand283. Aber die Annalen wurden eben erst ab 861 sein Leitmedium, in dem er
auch andere von ihm verfasste Texte integrierte und in dem er mit großer Auf-
merksamkeit für ähnliche Fälle von Konflikten zwischen Episkopat und Kö-
nigtum schrieb. Prudentius von Troyes folgte den Debatten, die sich am Wenilo-
Fall entzündeten nicht mit vergleichbarem Eifer. Welche Gründe können hierfür
angeführt werden?
Prudentius übernahm die Führung der Annalen von seinem Vorgänger, der
unter Aufsicht des Hofkaplans Fulco geschrieben hatte und hat sie dann von 835
bis zu seinem Tod 861 geführt. Auch Prudentius war Hofkaplan unter Ludwig
dem Frommen gewesen und hatte seine Ausbildung am königlichen Hof er-
halten. Irgendwann zwischen 843 und 846 wurde er zum Bischof von Troyes
erhoben284. Doch obwohl Prudentius zunächst die hofnahe Geschichtsschrei-
bung fortsetzte, änderte sich seine Haltung zu Karl dem Kahlen im Laufe der
Zeit. Nimmt man seine Aussage zur Beendigung des Wenilo-Falls, so kann man
zunächst vermuten, dass Prudentius eine Missachtung des Episkopats im
Handeln Karls sah. In diese Richtung hatte er sich nämlich bereits zuvor bei
283 Er redigierte nicht nur die Synodalakten von Quierzy, sondern inserierte auch die Visio Eucherii,
in der er Karl Martell erstmals namentlich als Kirchenräuber und Enteigner ausmachte und
königliches Handeln ganz massiv kritisierte. Der Beginn des Kirchengutsdiskurses ist auch in
Zusammenhang mit Collectio de raptoribus zu sehen. Diese Schrift richtet sich an den Invasor
Ludwig den Deutschen ebenso wie an Karl den Kahlen. 857-859 ist als eine Phase zu sehen, in
der Hinkmar von Reims sehr zielgerichtet in verschiedenen Fällen als Konfliktmanager auftrat
und sein Auftreten theoretisch-legitimatorisch abzusichern versuchte.
284 Vgl. Nelson, Annals, S. 177 f. Ein Hofkaplan übernahm die Annalen von einem anderen und an
dem Charakter der Annalen änderte sich zunächst nichts Wesentliches. Sie wurden am Hof
geführt und der Hof stand im Mittelpunkt. Prudentius war spanischer Herkunft und kam am
Hof Ludwigs des Frommen mit zwei sehr einflussreichen Männern in Kontakt: Lupus von
Ferrieres und eben Wenilo von Sens.
III. Der König und seine Bischöfe
3. Exkurs: Der Fall Wenilos in der Historiographie
Obwohl der Fall Wenilos weitreichende Bedeutung für politische Ordnungs-
vorstellungen hinsichtlich von König- und Bischofsamt, Hierarchien und Eide
hatte, findet er keinen entsprechenden Niederschlag in der zeitgenössischen
Historiographie. In der wichtigsten Quelle für das westfränkische Reich zu der
Zeit, den Annales Bertiniani, findet sich nur der oben diskutierte lapidare Hin-
weis, dass Karl der Kahle sich mit Wenilo ohne die Anhörung der Bischöfe
versöhnte.
Zum Zeitpunkt der Anklage gegen Wenilo wurden die Annales Bertiniani
von Bischof Prudentius von Troyes geführt. Seine Darstellung steht in auffälli-
gem Widerspruch zu der Schilderung und Verarbeitung späterer Bischofsan-
klagen oder -absetzungen durch Hinkmar von Reims, der die Führung der
Annalen ab 861 übernahm. So ist Hinkmar zwar die treibende Kraft hinter dem
Synodalschreiben von Quierzy und allgemein ist zu konstatieren, dass er sich
gerade ab Mitte der 850er Jahre in einer ersten Hochphase seiner Textproduktion
befand283. Aber die Annalen wurden eben erst ab 861 sein Leitmedium, in dem er
auch andere von ihm verfasste Texte integrierte und in dem er mit großer Auf-
merksamkeit für ähnliche Fälle von Konflikten zwischen Episkopat und Kö-
nigtum schrieb. Prudentius von Troyes folgte den Debatten, die sich am Wenilo-
Fall entzündeten nicht mit vergleichbarem Eifer. Welche Gründe können hierfür
angeführt werden?
Prudentius übernahm die Führung der Annalen von seinem Vorgänger, der
unter Aufsicht des Hofkaplans Fulco geschrieben hatte und hat sie dann von 835
bis zu seinem Tod 861 geführt. Auch Prudentius war Hofkaplan unter Ludwig
dem Frommen gewesen und hatte seine Ausbildung am königlichen Hof er-
halten. Irgendwann zwischen 843 und 846 wurde er zum Bischof von Troyes
erhoben284. Doch obwohl Prudentius zunächst die hofnahe Geschichtsschrei-
bung fortsetzte, änderte sich seine Haltung zu Karl dem Kahlen im Laufe der
Zeit. Nimmt man seine Aussage zur Beendigung des Wenilo-Falls, so kann man
zunächst vermuten, dass Prudentius eine Missachtung des Episkopats im
Handeln Karls sah. In diese Richtung hatte er sich nämlich bereits zuvor bei
283 Er redigierte nicht nur die Synodalakten von Quierzy, sondern inserierte auch die Visio Eucherii,
in der er Karl Martell erstmals namentlich als Kirchenräuber und Enteigner ausmachte und
königliches Handeln ganz massiv kritisierte. Der Beginn des Kirchengutsdiskurses ist auch in
Zusammenhang mit Collectio de raptoribus zu sehen. Diese Schrift richtet sich an den Invasor
Ludwig den Deutschen ebenso wie an Karl den Kahlen. 857-859 ist als eine Phase zu sehen, in
der Hinkmar von Reims sehr zielgerichtet in verschiedenen Fällen als Konfliktmanager auftrat
und sein Auftreten theoretisch-legitimatorisch abzusichern versuchte.
284 Vgl. Nelson, Annals, S. 177 f. Ein Hofkaplan übernahm die Annalen von einem anderen und an
dem Charakter der Annalen änderte sich zunächst nichts Wesentliches. Sie wurden am Hof
geführt und der Hof stand im Mittelpunkt. Prudentius war spanischer Herkunft und kam am
Hof Ludwigs des Frommen mit zwei sehr einflussreichen Männern in Kontakt: Lupus von
Ferrieres und eben Wenilo von Sens.