Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kleinjung, Christine; Johannes Gutenberg-Universität Mainz [Contr.]
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 11): Bischofsabsetzungen und Bischofsbild: Texte - Praktiken - Deutungen in der politischen Kultur des westfränkisch-französischen Reichs 835-ca. 1030 — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2021

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74403#0346
License: Creative Commons - Attribution - ShareAlike
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
6. Politische Kultur und Kommunikation

345

6. Politische Kultur und Kommunikation
Diese Suche nach einem geeigneten Verfahren für die Amtsenthebung eines
Bischofs ist Kennzeichen der politischen Kultur Westfrankens, denn sie steht für
die Funktionsweise einer frühmittelalterlichen Gesellschaft, die Politik und
Moral nicht trennt. Die politische Kultur basierte auf einer symbolischen Ver-
gegenwärtigung der politischen Ordnungsvorstellungen in Handlungen und in
öffentlichen Willenserklärungen der Akteure und ihr war gleichzeitig ein Stre-
ben inhärent, diese Vergegenwärtigung von Körpern unabhängig in Texten zu
speichern, auf Pergament zu bannen. Daher wirkten confessio und subscriptio des
angeklagten Bischofs erst zusammen. Eide und Bekenntnisse sind ephemer, sie
„verflüchtigen sich" nach der Leistung, eine Bezeugung durch die Anwesenden
reichte offensichtlich nicht aus, denn mit großem Aufwand wurde versucht, sie
in einen dauerhaften sinnstiftenden Kontext zu überführen und für zukünftige
Diskussionen bereit zu halten — und zwar vor allem von „Sinnproduzenten" von
Amts wegen wie Hinkmar von Reims, der dies mit seinen Texten tat, die im
Reimser Archiv aufgehoben worden sind. Wer hatte überhaupt die Fähigkeit
und das Interesse, als Träger der Erinnerung von Bischofsabsetzungen zu fun-
gieren? Es waren Bischöfe und Äbte mit eigenen Skriptorien und Archiven. Der
Königshof verfügte nicht über ein eigenes Archiv.
Selbst die Ankläger einte kein gemeinsames „Konzept", sie teilten zwar ge-
meinsame politische Vorstellungen (Bischöfe und König leiten die ecclesia, Bi-
schöfe haben metaphysische Verantwortung), hatten aber unterschiedliche In-
teressen und Vorstellungen davon, welche politische Bedeutung rechtssymbo-
lischen Handlungen und Ritualen wie Eiden zukam und ob sie gesellschaftliche
Hierarchien herstellten. Die ständige Performanz der politischen Kultur zeichnet
die hier untersuchte Gesellschafte aus — die Ordnung wurde durch die Hand-
lungen nicht bestätigt, sondern erst hergestellt. Mindestens so wichtig wie die
Handlungen selbst waren die nachträgliche Kommentierung: es musste ge-
meinsam erinnert, dargestellt, vergegenwärtigt werden. Daher die öffentlichen
Gehorsamsversprechen, Sündenbekenntnisse und Selbstverfluchungen. Aber
sie mussten gleichzeitig verschriftlicht werden, um die Interpretation sicher zu
stellen. Diese Verschriftlichung erfolgte von professionellen Sinnproduzenten1438
wie Hinkmar von Reims und Gerbert von Reims. Mit dieser Verschriftlichung
und Speicherung waren Machtinteressen verbunden.
Greifbar wird eine durch Handlungen und ihre Deutung konstituierte politische
Ordnung als symbolische Ordnung, die durch Diskurse hergestellt wird. Das ist
bei der Analyse der Bischofsabsetzungen deutlich geworden. Rituale haben
keine vorgegebene Eigenbedeutung, sie verweisen nicht auf feste Konzepte,
sondern werden ausgelegt und erklärt. Handlungen verweisen auf einen Sinn,

1438 Vgl. auch Rohe, Politische Kultur, S. 339.
 
Annotationen