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Leonardo; Ludwig, Heinrich [Editor]
Das Buch von der Malerei: nach dem Codex Vaticanus 1270 — Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Band 18: Wien: Braumüller, 1882

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https://doi.org/10.11588/diglit.73085#0055
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WETTSTREIT ZWISCHEN MALEREI UND POESIE.

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sie dient besser und vornehmer ist, als der, dem die Dichtkunst
dient, welche Vornehmheit sich als die dreifache der übrigen
Sinne erwies. Denn es ward vorgezogen, lieber Gehör, Geruch
und Tastsinn, als den Sinn des Gesichtes einbüssen zu wollen.
Wer das Gesicht verliert, der verliert den Anblick und
die Schönheit des Weltalls und ist gleich einem, der lebendig
in ein Grab eingesperrt würde, worin er sich bewegen und
leben könnte. Siehst du nicht, dass das Auge die Schönheit
der ganzen Welt umfasst? Es ist das Oberhaupt der Astronomie,
es bewerkstelligt die Kosmographie, es beräth und berichtigt alle
menschlichen Künste. Es treibt den Menschen nach den verschie-
denen Weltgegenden hin. Es ist der Fürst der mathematischen
Fächer, seine Wissenschaften sind höchst sichere. Es hat Höhe
und Grösse der Sterne gemessen, die Elemente und ihre Lage
aufgefunden, und aus dem Lauf der Gestirne die zukünftigen
Dinge voraussagen lassen; es hat die Architektur und die Per-
spective, und endlich die göttliche Malerei erzeugt. 0 du hoch-
ausgezeichnetes, über alle von Gott geschaffenen Dinge. Welche
Lobeserhebungen vermöchten deinen Adel auszusprechen? Welche
Völker, welche Zungen vermöchten deine Thätigkeit, wie sie
ist, erschöpfend zu beschreiben?
Es ist das Fenster des menschlichen Leibes, durch welches 9
hin die Seele nach der Schönheit der Welt ausschaut und
sie geniesst, um seinetwillen lässt sie sich des Kerkers, des
Menschenleibes, genügen, und ohne es ist dieser Kerker ihre
Pein. Um seinetwillen entdeckte menschlicher Erfindungsgeist
das Feuer, vermöge dessen das Auge wieder erlangt, was ihm
die Dunkelheit zuvor entzog. Das Auge ist's, das die Natur mit
Ackerbau und ergötzlichen Gärten geziert hat.
Aber was thut es noth, dass ich mich in so hohes und
langes Reden ausdehne, welches wäre das Ding, das nicht durch
es geschähe? Es führt die Menschen vom Orient zum Occident,
es hat die Schifffahrt erfunden. Und darin übertrifft es die
Natur, dass die einfachen Naturerzeugnisse endlich an Zahl sind,
der Werke aber, die das Auge den Händen befiehlt, sind end-
lose, wie der Maler in der Erfindung unendlicher Formen
von Thieren, Kräutern, Bäumen und Situationen darthut.
(m. 1: Ende, was die Poesie und Malerei anlangt.)
 
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