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Der Querschnitt — 5.1925

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Tynjanoff, J.: Die Russische Literatur der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0643
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Dann


DIE RUSSISCHE LITERATUR DER GEGENWART
Von
J. TYNJANOFF

Eine Zeit der „literarischen Strömungen und Gegenströmungen“ waren das
neunzehnte Jahrhundert und die ersten zehn Jahre des zwanzigsten. Die
große Strömung des Symbolismus rief den Widerspruch des Futurismus wach.
Beinahe täglich gab es zu jener Zeit neue „Theorien“ und „Manifeste“ und
man bemerkte des öfteren in der Geschwindigkeit gar nicht, daß so manche
kleine „Richtung“ nichts anderes vorzuweisen hatte als eben solch ein Manifest.
(So war es um den sogenannten „Imaginismus“ bestellt.)
Und noch ein Kennzeichen hatte jene Zeit, das nicht ganz auf Zufälligkeit be-
ruhte: der Vers nahm den Vorrang vor der Prosa ein.
Jetzt haben wir den vollkommenen Sieg der Prosa. Dieser Sieg war gar
nicht einfach. Vers und Prosa sind literarisch sowohl wie sprachlich Manifesta-
tionen ganz verschiedener Art. Im Vers verändert sich der Sinn des
Wortes, wird verwischt — während sein Zusammenhang mit der Prosa ganz
anderer Art ist; Vers und Prosa gehen nicht nur verschiedene Wege, sie ver-
folgen auch verschiedene Ziele. Das Vorherrschen der Prosa ist ein Barometer
für unsere Zeit.
Jedes Werk ist heute „notwendig“ oder „entbehrlich“, nicht bloß „inter-
essant“ oder „uninteressant“, und aus diesem Grunde berührt es uns auch gar
nicht, ob eine Arbeit „gut“ oder „schlecht“ ist, ob die Sprache des Verfassers
gut ist oder nicht — etwas ganz anderes ist von Wichtigkeit, nämlich: daß die
Arbeit lebendig ist, daß das „Notwendige“ richtig erfaßt worden ist.

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