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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 6
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Rost, Nico: Kohlen, Polen und van Gogh im Borinage
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0556

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will etwas wissen von großen Grubenunglücken, die kommen selten vor, große
Einstürze oder Durchbrüche gab es schon seit Jahren nicht mehr. Natürlich
passiert jeden Tag einem von ihnen etwas, aber das kann man doch kein Gruben-
unglück nennen, das gehört zum Beruf, daran ist nichts zu ändern. Alte Mineurs
aber wissen noch von Katastrophen zu erzählen, die hunderte von Toten kosteten,
und in vieler Erinnerung lebt noch das Unglück von 1875 in Agrappe mit seinen
112 Toten, wo einen Tag vorher von unbekannter Hand auf einen leeren Güter-
wagen drohend geschrieben stand: Demain tont sautera. Niemals wurde dieses
Rätsel gelöst, niemals der Schreiber der Worte ermittelt, und unwillkürlich denkt
man an den Syndikalisten Suwarin aus Zolas Germinal, der eine Bahnstunde
südlicher, in Nordfrankreich, sein Strafgericht über die Nutznießer der Grube
abhielt.
Auf dem Wege von St. Ghislain nach Quaregnon stehen die Wagen der
Zigeuner. Die Pferde sind abgemagert, die Kinder spielen im Schnee. In den
Wagen brennt nasses Holz, das die Kinder heute mit Mühe gefunden haben,
über den Wagen fahren die Kohlen geradeswegs zu den Schiffen. Sie hängt etwas
zu hoch, diese Schwebebahn, und auch diese Kohle zeigt Spuren der menschlichen
Moral. Die oberste Schicht ist mit Kalk besprengt, damit man es merke, wenn ein
Arbeiter oder Zigeuner sich auf den Zug schwingen und ein paar Stücke abwerfen
wollte.
Ein paar Schritt weiter ist der Eingang der Charbonnage von Quaregnon.
Gerade kehrt eine Schicht heim.
II.
Fünfzig Jahre früher, 1878, konnte man am Eingang der gleichen Charbonnage
beinahe jeden Abend einen jungen Evangelisten der protestantischen Mission
treffen, der immer wieder von neuem versuchte, die aus dem Schacht kommenden
Mineurs zu zeichnen. 1878 war er hierher gekommen, um unter ihnen das Evan-
gelium zu predigen. Vincent van Gogh war damals 26 Jahre, wußte nichts von
Malerei oder Kunstrichtung. Erst mietete er bei Mme. Denis in Wasmes ein
kleines dürftiges Zimmerchen, gab ihren Kindern Stunden und nährte sich nur
von trockenem Brot und kaltem Kaffee. Dann zog er wieder aus, aus Angst, daß
diese Bequemlichkeit ihn verweichlichen könnte, trank nur Wasser und richtete
sich in einer alten verfallenen Bauernhütte in Petit-Wasmes ein, wo er sich abends
vor den kalten Herd auf einen dünnen Strohsack hinlegte. Er wohnte da ganz allein,
heizte seinen Ofen nicht, hatte keinen Stuhl, keinen Tisch, keine sonstigen Möbel,
nur den Wunsch, andern zu helfen. Die Kleider, die er bei der Ankunft besaß,
hat er, soweit er sie entbehren konnte, verschenkt. Jeden Sonntag Abend hielt
er eine Bibelvorlesung ab in einem alten Tanzsalon, Salon Bebe. Dorthin kamen
die frommen Kohlenarbeiter, finster und ausgedörrt, denn den ganzen Tag hatten
sie hunderte Meter unter der Erde gearbeitet. Man liebte Pastor Vincent, sah aber
mehr noch als einen Evangelisten einen Medizinmann in ihm. Da die Mineurs
auch damals schon arm waren und nichts vom Alltag zu erwarten hatten, warteten
sie auf ein Wunder. Auch jetzt kündigt ein Spiritist in Wasmes eine seance für die
nächste Woche an, und ein paar Tage vorher hat ein Telepath die Bevölkerung in
Erregung versetzt. Wenn damals die Söhne züm Militär einrücken mußten und
das Los darüber entscheiden sollte, gingen die Mütter zu Pastor Vincent wie zu

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