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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Dami, Aldo: Damit wir uns verstehen: Parlamemt und Politik in Frankreich
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0243

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allgemeine Zentralisierung besteht immer noch, nach 150 Jahren. Verwaltung und
Behörden sind die Napoleons mit einigen Änderungen der Charte Ludwigs XVIII.
Die Kammer wirkt, wie etwa das Geschworenengericht, in einem ganz anderen
Sinne als dem ihres Ursprungs. Auf der Grundlage einer abwechselnden Macht-
ergreifung zweier Gruppen ist sie heute zu einem Dogma, einem Selbstzweck
geworden. Sie steht breit in der Mitte der Politik, und ihre Wirkung ist gleich
Null. Die Staatsvertretung steht für den Staat. Wozu noch die Trennung der Ge-
walten bekämpfen, wenn es diese Trennung nicht gibt! Die Vertrauensfrage wird
nur noch mißbräuchlich gestellt. Da sind lauter Splitter von Grüppchen, nicht
einmal Parteien mehr, sie haben keine Front und kein Programm nach irgend-
welcher Seite; sie bestehen aus bloßen Anhängerschaften.
Das ist noch nicht alles. Es gibt noch ganz andere Dinge. Trotzdem ist dies
alles nicht gegen Frankreich gesagt. Deutschland weist nicht die offensichtlichen
Gebrechen der französischen Politik auf. Die deutsche Politik wird ernsthafter
und sachlicher getrieben, sie ist Zweck und Mittel zugleich: das Ziel ist die öffent-
liche Wohlfahrt. Man läßt den Ministern die Zeit zu Regierungsmaßnahmen, sie
sind nicht das ständig gehetzte Wild, immer die Meute der Deputierten mit ihrer
Vertrauensfrage hinter sich her. In Deutschland macht man neue Gesetze, in
Frankreich redet man von solchen. Doch wie schön redet man immerhin! Die
Franzosen, immer etwas begeistert und immer etwas rückständig dabei, sie lassen
sich Zeit, das einmal klar Erfaßte auch auszuführen, sie wissen, was sie von allem
zu halten haben. Sie amüsieren sich selber über ihren Nationalfehler und sie er-
lauben, übrigens wohl als das einzige Volk in der Welt, dem Ausländer, hier mit-
einzustimmen, sogar in Frankreich selbst. In keinem andern Land kann man sich
in so weiten Grenzen über das Bestehende lustig machen. In Frankreich ist alles
zu sagen erlaubt. Man weiß, daß hier Worte ohne Wirkung bleiben.
Frankreich also hat sich nach seinem geschichtlichen Riesensprung zur Ruhe
gesetzt — es verdaut in seinen fetten Wiesengründen. Indessen hat sich die Fragen-
stellung in das Soziale verändert, die andern Völker sind Frankreich lange nach-
gefolgt, haben aber dann den toten Punkt für sich überwunden. Rußland und auch
Italien — das aus andern Gründen als Frankreich zur Reform nicht fähig ist —
haben jedes einen neuen Sprung getan, beide freilich auf ihrer eigenen Plattform,
zugänglich beide nur unter bescheidenen Bedingungen. Aber auch England wie
Deutschland kommen mit Vorsicht heran. Deutschland änderte — besserte sogar —
seine Gesetzgebung ständig. England tat ein Gleiches — unter Wahrung der alten
Formen; hier läßt man die Konservativen selber reformieren.
Deutschland ist heute ganz unstreitig Frankreich voraus. Schon 1860 etwa hat
es dieses eingeholt. In manchen Dingen hat heute sozusagen das Elsaß Frankreich
annektiert. Man nimmt, nach elsässischem Vorbild, Gesetze über Sozialversiche-
rung an, wie sie das Reich Bismarcks schon vor dreißig Jahren besaß. Die Weimarer
Verfassung wurde allerdings unter günstigeren, nämlich revolutionären, Umstän-
den geschaffen als die französische, die ein Werk der Umstände ist; sie sieht darum
auch den Volksentscheid, die Initiative und die Fortdauer der Volkssouveränität

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