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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Martin, Sally: Warum wir hysterisch sind
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0400

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Warum wir hysterisch sind
Von
Sally Martin
(New York)
Trinken wir eigentlich ? Nun, ich bin mit College-Jungen und College-Mädchen
jahrelang zum Tanz gegangen : Alkohol floß immer in Strömen. Ob sie betrunken
waren? Es war ihnen sterbensübel, sie mußten aufs erste passende Lager gebettet,
mit heißem Kaffee und Eiskompressen gelabt werden, bis sie, bleich und wankend,
nach Hause gebracht werden konnten. Das trifft auf Jungen und auf Mädchen zu.
Ich muß es wissen, ich war ungezählte Male der Labende und oft der Gelabte.
Ich kann keine Zahlen nennen; aber es wäre auch lächerlich, so allgemein ist
Trinken bei der Jugend geworden. Wenn's der Statistiker mir etwa nicht glauben
wollte, so frage ich ihn: Wann in aller Geschichte hat es schon so viele Selbstmorde
Jugendlicher gegeben ? Wann einen so hohen Prozentsatz von jugendlichen Krimi-
nellen? Aber eine interessante Zahl könnte ich dem Statistiker auch selbst angeben:
In der Stadt, wo ich lebe, wurden unlängst alle Jungen und Mädchen der höheren
Schulen von 16—18 Jahren ärztlich untersucht, und es stellte sich heraus, daß
27 Prozent von ihnen bereits geschlechtskrank waren.
Wem wollen wir die Schuld daran geben? Den Müttern, weil sie ihre Kinder
auf höhere Schulen schickten? Den Schulen, weil sie Jungen und Mädchen zu-
sammen erzogen ? Den Jungen und Mädchen selbst wegen ihrer unstillbaren Neu-
gier auf das Geschlecht? Man könnte schließlich allen dreien die Schuld geben,
aber man sollte doch wissen, wie es und wo es in den meisten Fällen begonnen hat.
Sie sind jung, kräftig, liebenswert — sie tanzen miteinander zu den Klängen einer
wilden, barbarischen Musik — sie verlassen den Saal, um im Auto eine Zigarette
zu rauchen — einer bringt eine Flasche zum Vorschein (immer ist eine Flasche da)
— ein Schluck und noch einer und noch einer — Paare schleichen sich fort —
und dann kommt die Dämmerung.
Ein Fall, den ich selber erlebt habe. Ich verbrachte das Wochenende in einer
kleinen Stadt und wurde dort zu einer ziemlich luxuriösen Party in einer vor-
nehmen Wohngegend eingeladen. Die Gesellschaft war ein wenig gemischt, nur
über einen Punkt waren sich all die jungen Leute einig. Es waren unter uns Schul-
mädchen und Mädchen, die mit der Schule schon fertig waren, junge Bankangestellte
und arrivierte Geschäftsleute, verheiratete Männer und Junggesellen; reiche Mäd-
chen und Mädchen der sogenannten niedrigeren Klassen. Bald war alles betrunken.
Pärchen begannen sich in allen Richtungen hinauszuschleichen: einige ins Mond-
licht, andere in die Wagen, wieder andere in die Schlafstuben oben im ersten Stock.
Sie waren lange abwesend, und die anderen tranken inzwischen weiter. Ein Mädchen
begann Krach zu schlagen. Sofort wurde sie in ein kaltes Bad gesetzt, wobei ihr
Jungen und Mädchen zusahen, und sowie ihre Suite ihr den Rücken gekehrt hatte,
stürzte sie nackt, nur mit einem Leintuch um die Schultern, die Treppe hinab. Als
wir sie schließlich entdeckten, hockte sie in der Küche in einem Kreis von Burschen
und Mädchen, die Kaffee tranken und Sandwiches aßen. Da es allmählich dunkel
wurde, schlug ich vor, nach Hause zu gehen. Allgemeine Entrüstung gegen den, der
dem Beisammensein ein Ende bereiten wollte. Es stellte sich heraus, daß alle

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