Hermann Schardt
Stempelstelle
Deutscher Prunk und deutsche Askese
Von
Aldous Huxley
Im 18. Jahrhundert kümmerte sich in Europas Staatskanzleien niemand viel um
Hessen. Seine Feindschaft bedeutete keine Bedrohung, seine Freundschaft
brachte keine nennenswerten Vorteile. Hessen war nur einer von den unwichtige-
ren deutschen Staaten, eine zehntrangige Macht.
Und doch steht in der Umgebung von Kassel, der ehemaligen Hauptstadt
dieses lächerlich unbedeutenden Fürstentums, ein Palast, so groß und prächtig,
daß er einen vollausgewachsenen Kaiser beherbergen könnte. Eine lange Sieges-
Allee verbindet Wilhelmshöhe mit der Stadt, die sein Besitzer so majestätisch
regierte; vor der andern Schloßfront bis zum Gipfel des nahen Berges erstreckt
sich einer der wunderbarsten architektonischen Gärten der Welt. Dieser Garten,
der wie ein gigantisches Treppenhaus mit verzierten Steinmauern wirkt, zieht
sich hinan durch den Wald bis zu einem nichtssagenden Gebäude im großartigsten
römischen Stil, das fast so groß ist wie eine Kathedrale und von einer riesenhaften
Bronze-Statue des Herkules überragt wird. Zwischen Herkules auf der Höhe und
Wilhelmshöhe im Tale breitet sich eine Reihe von Terrassen mit Fontänen,
Kaskaden, Grotten, speienden Tritonen, Delphinen, Nereiden und all der übrigen
mythologischen Fauna eines Wasser-Gartens aus dem 18. Jahrhundert. Das
Schauspiel, wenn alle diese Wasserkünste spielen, ist prachtvoll: zwei Meilen
abstürzender, neuklassischer Katarakte und höfisch kanalisierten Schaums. Die
Wasserkünste von Versailles sind zahm und alltäglich dagegen.
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