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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Holbrook, Weare: Amerikanische Landschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0842

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Amerikanische
Landschaft
Von
Weare Holbrook

Die Amerikaner sind
ein tüchtiges und
selbstbewußtes Volk, das
stolz darauf ist, in jeder
Beziehung auf eigenen
Füßen zu stehen — wenn
man von den Verhält^
nissen auf der Untere
grundbahn absieht.

Wenn der Amerikaner auf Reisen geht, so zieht er mit einer reichhaltigen Samm^
lung verschiedenster Daten bewaffnet aus, und der Zweck seiner Reise ist, vor allem
festzustellen, ob die Wirklichkeit sich auch an die Angaben der Reisehandbücher
hält. Er gleicht einem Fabriksdirektor auf einer Inspektionstour. Eine Kathedrale
bedeutet ihm ein etwas unübersichtliches Gemenge von Geometrie und Ge^
schichte — er wird so lange gebannt vor ihr stehenbleiben, bis er sich überzeugt hat,
daß die Spitzbogen genau den auf Seite 337 seines Reisehandbuches festgelegten
Vorschriften entsprechen.
In anderen Ländern offenbaren sich die landschaftlichen Schönheiten am besten

in einer bestimmten Jahreszeit. So ist die englische Provinz am schönsten im Früh^
ling, Norwegen im Sommer, Frankreich im Herbst und Süditalien im Winter.
Aber für den, der die Lieblichkeit der amerikanischen Landschaft bewundern will,
ist eine Jahreszeit so gut wie die andere geeignet. Plakatflächen und Benzinstationen
sind glücklicherweise dem Wechsel der Jahreszeiten nicht unterworfen. Nichts^
destoweniger schwärmt der Amerikaner leidenschaftlich für schöne Landschaften.
Wo immer er ein Stückchen malerischer Szenerie, ein paar Sträucher, einen blü<
henden Baum entdeckt, gräbt er es säuberlich aus und nimmt es nach Hause. Oder
wenn die Szenerie zu schwer ist, um mitgenommen zu werden, umgibt er sie mit
einem hohen Zaun, der sich selbsttätig mit Kaugummireklamen bedeckt.
Kein Besucher ländlicher Gegenden sollte es verabsäumen, den Volksliedern zu
lauschen, die dem Herzen des amerikanischen Landvolkes so teuer sind. Es wäre
übrigens schwer, ihnen nicht zu lauschen, es sei denn, man wäre stocktaub, da jeder
Schuppen und jedes Bauernhaus mit einem Lautsprecher neuester Type versehen
ist. Die Volkslieder wechseln von Woche zu Woche, aber ihr Thema bleibt stets
das gleiche: synkopiertes Heimweh — jemand hat eine Person oder einen Ort ver$
lassen und möchte in Begleitung eines Saxophons dahin zurückkehren. Woran man
ihn begreiflicherweise hindern will.
Und hierin offenbart sich Amerikas Seele vielleicht am deutlichsten.

(Deutsch von Leo Korten)

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