Tuchatschewski, der rote Marschall
Von
Leo Lania
In der Gruppe der ausländischen Generale und Militärattaches, die als Gäste den
letzten Manövern unserer Reichswehr beiwohnten, war der Delegierte Sowjet-
rußlands Michael Nikolajewitsch Tuchatschewski wohl der jüngste, wahrschein-
lich der ranghöchste, bestimmt aber der Offizier mit der ungewöhnlichsten und
glänzendsten Karriere. Denn dieser heute knapp Neununddreißigjährige ist nicht
nur Armeeführer, Kommandant des gesamten westlichen Militärbezirks, den einst
der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch kommandierte, sondern auch offizieller
Stellvertreter des Kriegskommissars Woroschilow, der einflußreichste Mann im
revolutionären Kriegsrat und der eine der beiden populärsten Generale der Roten
Armee. Der andere heißt Blücher.
Wiewohl die Männer des neuen Rußland, die Führer der bolschewistischen
Revolution seit Jahren im Brennpunkt des Weltinteresses stehen und obwohl
dieses sich auch immer wieder und neuerdings in steigendem Maße der Roten
Armee und ihrem Wirken zuwendet, sind die großen Akteure der bolschewisti-
schen Militärmacht im Westen so gut wie unbekannt. Und auch in Rußland selbst
müssen die hohen Generale das grelle Licht der Öffentlichkeit meiden, ihre Bilder
prangen nicht neben den Fotografien der prominenten Sowjetführer in den Aus-
lagen der Geschäfte und an den Wänden der Arbeiter-Klubs — - vorbeugende
Maßnahmen gegen die Züchtung eines neuen Militarismus. Der Popularität
Tuchatschewskis haben auch diese Maßnahmen nichts anzuhaben vermocht;
denn die immer wieder auf den unvermeidlich kommenden Krieg hingewiesene
Öffentlichkeit sieht in ihm nicht bloß einen berühmten und erfolgreichen General,
sondern den zukünftigen „Generalissimus gegen Polen", indes die Opposition das
Bild Tuchatschewskis beschwört, um die drohende Gefahr eines neuen Bonapar-
tismus an die Wand zu malen.
Michael Nikolajewitsch Tuchatschewski ist ein Adeliger. Er entstammt einem
sehr alten russischen Geschlecht, Vorfahren von ihm haben mit Suwarow in
Italien gekämpft und mit Kutusow gegen Napoleon. 1893 wurde Michael Nikola-
jewitsch auf dem Stammgut der Familie im Gouvernement Pensa geboren,
absolvierte das Gymnasium*), trat in das Kadettenkorps ein, beendet 1914 die
Moskauer Alexander-Kriegsschule und rückt als Leutnant des Semjonowschen
Leibregiments, der Zarengarde, ins Feld. Schon am 2. September 1914 erhält er
den Wladimirorden mit Schwertern: an der Spitze seiner Kompanie hat er bei
Krzeszow eine österreichische Stellung gestürmt und sich durch besondere
Tapferkeit hervorgetan. Ein halbes Jahr darauf ist seine Karriere zu Ende:
Tuchatschewski wird Kriegsgefangener. Zwei Jahre verbringt er in deutschen
Gefangenenlagern und Festungen. Fünf Fluchtversuche unternimmt er in dieser
Zeit, der fünfte gelingt.
Das erstemal will er aus dem Lager Stralsund mit einem Boot nach Rügen und
*) Der Schriftsteller Roman Gul war hier sein Schulkamerad, und er hat soeben eine sehr
interessante Biografie Tuchatschewskis erscheinen lassen.
796
Von
Leo Lania
In der Gruppe der ausländischen Generale und Militärattaches, die als Gäste den
letzten Manövern unserer Reichswehr beiwohnten, war der Delegierte Sowjet-
rußlands Michael Nikolajewitsch Tuchatschewski wohl der jüngste, wahrschein-
lich der ranghöchste, bestimmt aber der Offizier mit der ungewöhnlichsten und
glänzendsten Karriere. Denn dieser heute knapp Neununddreißigjährige ist nicht
nur Armeeführer, Kommandant des gesamten westlichen Militärbezirks, den einst
der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch kommandierte, sondern auch offizieller
Stellvertreter des Kriegskommissars Woroschilow, der einflußreichste Mann im
revolutionären Kriegsrat und der eine der beiden populärsten Generale der Roten
Armee. Der andere heißt Blücher.
Wiewohl die Männer des neuen Rußland, die Führer der bolschewistischen
Revolution seit Jahren im Brennpunkt des Weltinteresses stehen und obwohl
dieses sich auch immer wieder und neuerdings in steigendem Maße der Roten
Armee und ihrem Wirken zuwendet, sind die großen Akteure der bolschewisti-
schen Militärmacht im Westen so gut wie unbekannt. Und auch in Rußland selbst
müssen die hohen Generale das grelle Licht der Öffentlichkeit meiden, ihre Bilder
prangen nicht neben den Fotografien der prominenten Sowjetführer in den Aus-
lagen der Geschäfte und an den Wänden der Arbeiter-Klubs — - vorbeugende
Maßnahmen gegen die Züchtung eines neuen Militarismus. Der Popularität
Tuchatschewskis haben auch diese Maßnahmen nichts anzuhaben vermocht;
denn die immer wieder auf den unvermeidlich kommenden Krieg hingewiesene
Öffentlichkeit sieht in ihm nicht bloß einen berühmten und erfolgreichen General,
sondern den zukünftigen „Generalissimus gegen Polen", indes die Opposition das
Bild Tuchatschewskis beschwört, um die drohende Gefahr eines neuen Bonapar-
tismus an die Wand zu malen.
Michael Nikolajewitsch Tuchatschewski ist ein Adeliger. Er entstammt einem
sehr alten russischen Geschlecht, Vorfahren von ihm haben mit Suwarow in
Italien gekämpft und mit Kutusow gegen Napoleon. 1893 wurde Michael Nikola-
jewitsch auf dem Stammgut der Familie im Gouvernement Pensa geboren,
absolvierte das Gymnasium*), trat in das Kadettenkorps ein, beendet 1914 die
Moskauer Alexander-Kriegsschule und rückt als Leutnant des Semjonowschen
Leibregiments, der Zarengarde, ins Feld. Schon am 2. September 1914 erhält er
den Wladimirorden mit Schwertern: an der Spitze seiner Kompanie hat er bei
Krzeszow eine österreichische Stellung gestürmt und sich durch besondere
Tapferkeit hervorgetan. Ein halbes Jahr darauf ist seine Karriere zu Ende:
Tuchatschewski wird Kriegsgefangener. Zwei Jahre verbringt er in deutschen
Gefangenenlagern und Festungen. Fünf Fluchtversuche unternimmt er in dieser
Zeit, der fünfte gelingt.
Das erstemal will er aus dem Lager Stralsund mit einem Boot nach Rügen und
*) Der Schriftsteller Roman Gul war hier sein Schulkamerad, und er hat soeben eine sehr
interessante Biografie Tuchatschewskis erscheinen lassen.
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