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Repertorium für Kunstwissenschaft — 9.1886

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Dahlke, Gotthilf: Romanische Wandmalerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.66023#0190
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G. Dahlke:

Unterschenkel frei, ist bei dem Weibe beinkleidartig über beide Knie gezogen
und hier wie dort in feinen Falten den hagern Körperformen angeschmiegt,
allein es fragt sich, ob diese naturgemässe Behandlung der Draperie nicht als
Veränderung der ursprünglichen Beschaffenheit zu deuten sind?
Der alte Meister hat in diesem Bilderkreise den mythischen Ursprung
des Menschengeschlechtes, den Naturzustand des ersten Paars und dessen Er-
ziehung zur Arbeit im Anschluss an die biblische Ueberlieferung behandelt und
dem Gedankeninhalt durch naive Auffassung und einfache Anordnung einen
besondern Reiz verliehen. Unleugbar gibt die Gestalt des Weltenschöpfers
durch freie Haltung, starren Blick der grossen Augen und schwungvolle Ge-
wandung den Eindruck von Würde und Macht, die feiner durchgebildete Figur
des Engels an seiner Seite ein Spiegelbild anmuthig ernster Lieblichkeit, eben
so unverkennbar ist der Widerstreit des Sittengesetzes mit dem geheimniss-
vollen Zauber verlockender Sinnlichkeit in den Zügen des Paars vor dem Baum
der Erkenntniss zu lesen. Zwar fehlt dem Schöpfer dieser Scenen volle
Sicherheit für die Gestaltung des Nackten, wie für die Durchgeistigung der
Form: des Racheengels blöder Mund und geistlose Miene entsprechen wenig
seiner energischen Bewegung und dem strafenden Blick, die Körperhaltung
des ersten Paars verleugnet hin und wieder Naturgefühl und die nägellosen
gekrümmten Zehen, wie die viereckige Unterlippe, deuten auf die Regel der
Werkstatt, nicht auf das lebende Modell; doch enthüllen selbst die ungelenken
Glieder das Ringen nach lebensvoller Natürlichkeit und dies Streben nach
Versinnlichung der geistigen Bedeutung erhebt den Sündenfall zu einem
Stimmungsbilde, verwebt der Arbeitsprobe einen Hauch der Poesie, lässt aber
die Verdunkelung der Linienführung und des alten Farbenauftrags durch die
Restaurirung um so schmerzlicher empfinden.
Steigt man die Stiege zur Empore hinan und wendet sich zum obern,
wenige Stufen erhöhten Chor, so findet man das Binnenfeld des runden Durch-
gangsbogens mit Jakobs Opferung und Traum geziert, sieht den Patriarchen
zur Linken, barfuss, in grüner Tunica und rothem Ueberwurf die Platte eines
Altarsteins mit Oel begiessen, zur Rechten das Haupt auf eine Hand gestützt,
in Schlaf versinken und als Vision zwei Engelspaare auf der Himmelsleiter:
hoch oben das Brustbild der göttlichen Majestät. Im Einklang mit den leicht-
bewegten Gestalten zeigt die Gewandung der geflügelten Boten zierlichen Schnitt
und Regelmässigkeit des Faltenwurfes, trägt aber in den Uebergängen der
Schattirung Spuren der Modernisirung, die auch in dem sorgfältig abgestuften
Golorit der länglichen, durch grosse runde Augen, die schmale Nase, den kleinen
geraden Mund und die eingesenkte Spitze der Oberlippe schwach individuali-
sirten Gesichter erkennbar bleibt. Gott Vater ist auf die Spitze der doppel-
seitigen Leiter gestellt, deren oberste Sprossen seine wagrecht ausgestreckten
Hände erfassen. Aus den greisenhaften Zügen mit ergrautem, kurzem Haar,
starrem Blick der tiefen Augen, hagern Wangen, ungewöhnlich schmaler Nase
und abwärts gezogenen Winkeln des viereckigen Mundes leuchtet feierliche
Ruhe, aber nicht des alten Meisters unverwischte Eigenart.
Einzelfiguren von Patriarchen, Propheten und christlichen Heiligen er-
 
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