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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 28.1918

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Heft 5/6
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Natorp, Paul: Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.26488#0111

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Fragt man, welcher Name die deutsche
Dichtkunst am vollsten und reinsten vertritt, so
ist es wohl nicht möglich einen andern zu nennen
als Goethe. Weltmächtig ist die deutsche Dich-
tung allein durch ihn geworden. Kein andrer um-
faßt wie er allen Gehalt, den je Dichtung in sich
aufgenommen hat, oder hat wie er vermocht ihn in
Formen von kaum erschöpfbarem Reichtum zu gießen.
Augleich fällt im Vergleich gerade mit den Größten
neben ihm sofort in die Augen, daß seine Dichtung,
so sehr sie mit Philosophie und Religion getränkt ist,
doch nie in Gefahr kommt, ins Philosophieren oder ins
Perorieren zu verfallen, sondern der Eigenart des Künst-
lerischen immer treu bleibt. Er, der einzige, lebt ganz
in Anschauung, die, auch wenn „Weltanschauung",
doch stets lebendige Bildkraft bleibt, nicht in bildlose
Abstraktion sich verliert oder in bloßen Gefühlserguß
zerfließt. Er hat Philosophie und Religion, sofern sie
zum Menschentum gehören; das Ganze des Menschen-
tums aber drückt sich ihm aus als Kunst, und zwar Wort-
kunst. War es ihm, dem Augenmenschen, versagt, es
in der bildenden Kunst zu mehr als einem edleren
Dilettantismus zu bringen, so war er dafür bildender
Künstler im höheren Sinn: Lebensbildner, sich selbst
und Andern, unserem ganzen Volke. Als solchen fühlt
und weiß er sich selbst im Alter, und als solchem sind wir
alle ihm verpflichtet, mehr als uns mcist bewußt ist;
als solchen erkannte ihn, erstaunlich klar für einen Aus-
länder, Thomas Carlyle. Nie mehr hätte von da an das
Wort „Bildung" in einem oberflächlicheren Sinne ver-
standen werden dürfen; besagt cs doch ihm und wer
seinem Sinne ireu geblieben, nichts Geringeres als
Gestaltung des ganzen Lebens zum lebendigen Kunst-
werk. Prometheus, der seine Menschenbilder nicht nur
formt, sondern, von Minerva selbst zum Lebensborn
geleitet,sie zum Leben erweckt,ist das sprechende Symbol
dessen, was Goethe als Sinn der Dichtung vor Augen
steht. Dichtung, Kunst sind nur viel zu schwache Aus-
drücke dafür. „Dichtung" besagt nur das freie Erdenken,
„Kunst" allenfalls die Potenz der Verlebendigung,
„Bildung" den Akt; und den muß man wieder prägnant
verstehen, als Akt der Lebensgestaltung: echtes Leben
ist nicht, was nicht gestaltet, Gestalt nicht, was nicht
lebendig ist und fort und fort Leben gestaltend weiter
wirkt.

Solch Prometheischer Bildner mochte auch wohl
Prometheustrotz in sich verspüren: „Hier sitz ich, forme
Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir
gleich sei . . ." Da scheint es oft, als solle nichts, weder
Menschliches noch Unter- und Übermenschliches anders
gelten als, sofern es in und aus ihm sich gestaltet, einzig
zu seiner Selbstvollendung. Doch ist der Quell seines
Prometheischen Bildens der urewige Platonische Eros:
„Sprich, rede, liebe Lippe, mir! O könnt ich euch das
fühlen geben, was ihr seid!" Das gehört vor allem zu

*) Aus: Deutscher Weltberuf, Geschichtsphilosophische Richt-
linien von Paul Natorp; durch freundliches Cntgegenkonunen
des Verfassers vor dem Erscheinen des Werkes (Verlag Cugen
Diedcrichs in Jena) abgedruckt.

seiner Selbstbildung, daß sie sich ergießen will in alles,
in alle, daß sie sich mitteilen muß. Jmmerhin, auch so
bleibt, wie seine ganze sittliche, religiöse, selbst wissen-
schaftliche, philosopbische Art, so die Auffassting seines
Künstlerberufs durchaus persönlich gerichtet. Damit
kann er scheinen aus der Linie ganz herauszutreten, die
bis dahin unsere Betrachtung innehielt, und die als
Kernlinie durch die Geschichte des deutschen Geistes uns
bis hierher sicher geleitet hat. Dieser Aug scheint Goethe
bestimmt zu scheiden von Eckehart, Luther, Rembrandt
wie von Kant, Schiller, Beethoven, Pestalozzi und allen,
die diesen gleichen, ihn eher in eine Reihe zu stellen
mit den Gewaltigen der Renaissance, einem Lionardo
oder Michelangelo, selbst mit Ludwig XIV. oder Na-
poleon, oder den willensmachtigen Gestalten Shake-
speares oder, wenn man sich lieber an die nahere deutsche
Vergangenheit hält, mit Nietzsche. ,Und doch braucht man
bloß diese Namen zu nennen, um sich sofort bewußt zu
werden, daß hier doch ein sehr wesentlicher Unterschied
ist. So wcnig nahe sonst Goethe der Begriff „Pflicht"
zu liegen scheint, hier gerade, in seineni Persönlichsten,
in der Auffassung seiner „Sendung", bekennt er sich
unumwunden zur „Pflicht des Mannes" und weist jeden
Verdacht des Ubermenschentums weit von sich:

„Für Andre wächst in mir das edle Guy'

Jch kann und will das Pfund nicht mehr vergrabcn!

Warum sucht ich den Weg so sehnsuchtsvoll,

Wenn ich ihn nicht den Brüdcrn zeigen soll!"

Das „Erkenne dich!" versteht er ganz im Sinne
der Griechen: Werde deiner Grenzen dir bewußt,
seien sie auch nicht engere als — die „Grenzen der
Menschheit".

Übrigens hat es tiefen sachlichen Grund, daß dem zum
Menschenbildner durch die Dichtkunst Geborenen der
Persönlichkeitssinn der Menschenpflicht so bestimmt be-
wußt ist und bis zuletzt bewußt bleibt: Dichtung als
Wortkunst hat ihr Aentrum in der unmittelbaren Wechsel-
beziehung von Person zu Person. Das zentrale Gebiet
der redenden Kunst ist daher unweigerlich das Sittliche,
im umfassendsten Sinn. Nur wo das Sittliche sich noch
nicht voll aus dem Natürlichen herausgearbeitet hat
(wie bei Homer), oder wo es noch ganz mit dem Reli-
giösen zusammenfließt (wie im meisten Orientalischen),
kann Dichtung unpersönlich sein. Von beidem ist genug
auch in Goethe zu finden. Vielleicht das dem Gehalt
nach Höchste seiner Dichtung liegt hoch über der Linie
der bloßen SelbstauSsprache, der nur persönlichen
„Beichte". Vielmehr, nur persönlich ist nichts, was bei
ihm zum Dichtwerk vollendet, nicht im Entwurf stecken
geblieben ist; nicht das Höchste im Faust, besonders
Gretchen, nicht Mignon und der Harfner, Orest, Jphi-
genie, Ottilie, oder was man nennen mag. Das alles
ist weder bloß persönlich erfahren, noch wirkt es bloß
naturhaft oder religiös, sondern im gründlichsten Sinne
sittlich. Damit aber fügt es sich ganz in jene Kernlinie
deutscher Seelenbildung ein. Welchen Begriff des Sitt-
lichen erfüllt denn Jphigeniens und Orests oder Tassos
innere Befreiung, Ottiliens Selbstopferung, wenn nicht
den, den aus der Tiefe religiöser Anschauung Eckehart
und Luther uns errungen haben, und mit dem Kants
und Schillers Pflichtbegriff, wie man nicht verkenncn
 
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