I. DIELEHRE VON MENSCHLICHER PROPORTION
io vnd alle jre arten durchsuch. Vnd jch haltz dafür,
je geneüer vnd geleicher ein bild den menschen
enlich gemaAt würdet, je pesser das selb werck
sey. Dann so man aüs hlen wolgestalten mensAen
an einem jtlichem sein hübschtes teil! jnn ein bild
i; ordenlich zie samen bringet, das ein solch werck
woll zu loben sey.*
Aber etlich sind einer andern meinvng, reden dar-
fan, wie die menschen solten sein. Solchs will jch mit
jnen nit krigen." Ich halt aber jnn solAem die natur
10 füer meister vnd der menschen wan füer jrsall."
Einmall hat der schopfer dye menschen gemacht,
wie sie müsen sein, vnd jA halt, das die reAt wol-
gestalt vnd hübsAeit vnder dem haüffen aller
mensAen begriffen sey. Welcher das reAt heraüs
15 zihen kann, dem will jA mer folgen dann dem, der
ein neü erdichte mas, der die menschen kein teill
gehabt haben, maAen will. Dann ein mall müs die
mensAliche gestalt beieiben ab gesAiden? van an-
dern creaturn, sie machens sunst, wie sie wollen.
30 Ob j A aber hie dorum angetzogen" würde, j A stel-
26. die) teili gernw/n???.
10. durchstich/ dafür/ 11. bild. 12. würdet/
13. sey. menschen/ 14. teill/ bild. 15. bringet/ 16. sey..
17. meinvng/ 18. sein/ 19. krigen/ 20. meister/ jrsall/ 22.
sein/ 23. hübscheit. 24. sey/ 23. kann/ folgen/ 27. haben,
will/ 28. beleihen. 29. wollen/ 30. würde/
let selbs besunder seltzam massen" der pilder, vm
das will jch mit [49"] nymant streiten. Aber dan-
nacht sind sie dorum nit vnmenschliA. Ich setz sie
aber dorum so weit fan ein ander, das ein jtlicher
vrsach doraüs nem vnd acht hab, wo jnn bedünck, 35
das jch jm zuhll oder zu wenig thu wider die natür-
liAen gestalt, das er das selbe meyde vnd der natür
folge. Dann man findet menAerley vnderschid jnn
allerley landen. Wer weit reiset, der würt es also
finden vnd selbs for aügen sehen. Van der hübsch- 40
ten gestalt der mensAen rotten*" wir. Aber der
macher der weit weis, wie die jnn einer perschan
sein solt, wir kümen sAwerlich** fan weiten ein
wenig hintzu, wen es woll gerett. Dann wir haben
eigen vnderschidlich sin, vnd der meinste*- teill, die 4;
jrem wolgefallen allein folgen, die jrren gewonliA.
Des halb mir zufolgen, will jA auA nymant bere-
den. Dann jch thu so vill jA mag,*" aber mir selbs
nit genüg.
37. natür) f/gVfifZ' liehen gestalt 38. vndersAid)
i/gTMr/' der menschlichen gestalt. 41. gestalt)
Zei/e; menschen) ge
31. pilder/ 32. streiten/ 34. ander/ 33.
nem/ hab/ 36. thu/ 37. gestalt/ 38. folge/ 39. landen/
40. sehen/ 41. wir. 42. weit. 43. solt/ 44. hintzu/ gerett/
43. sin/ 46. folgen, gewonlich/ 47. zufolgen. 47 f. bereden/
48. mag/
ANMERKUNGEN
* wohlüberlegt; Gegensatz „unbesunnen".
- damit.
3 ungefähr.
* Vgl. Bd. II Kap. I A Nr. 6.
3 Darüber will ich mit ihnen nicht streiten.
" Nach K. Lange die klassische Stelle für Dürers natu-
ralistisAe Kunstauffassung. Vgl. A 4 zu Nr. 1.
? Vgl. auA Lehre von mensAliAer Proportion (1528),
fol. Q3" (Lange-Fuhse, S. 211).
Zu dem von Kaufmann, aaO, S. 129, in einem be-
stimmten Sinn gedeuteten und von Panofsky, JahrbuA
für Kunstwissenschaff 1926, S. 173 ff., weiter erörterten
Begriff des „AbgesAiedenen" ist ergänzend auf K. Bo-
rinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie I, S. 149
und 290, zu verweisen, wo festgestellt wurde, daß
„die vergleichliAen Ding" und ihr Gegenteil „die an-
dern abgesAiedenen" identisA sind mit Ciceros auf
Platons avakoyla zurü&gehenden Begriff der Com-
paratio und dessen Gegensatz der Separatio.
Bemerkenswert ist auch, daß mhd. „abgescheiden" part.
adj., ebenso wie der Begriff der „vergleiAung", zum
WortsAatz der deutsAen Mystik gehört und „von
allem Äußerlichen losgelöst, abgeschieden, losgetrennt",
bedeutet. Das Substantivum dazu ist „abgesAeidenheit"
stf. Meister Eckhart hat einen ganzen Traktat (den
9.) über diesen Seelenzustand verfaßt (vgl. F. Pfeiffer,
Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, II,
Leipzig 1837, S. 483 ff.). AuA hier mag der Begriff
in Dürers Terminologie noA einen Rest seines Her-
kunffscharakters aus dem religiös-spekulativen BereiA
an sich tragen. Vgl. auch O. Zirker, Die BereiAerung
des deutschen Wortschatzes durA die spätmittelalter-
liche Mystik (Jena 1923), S. 17 f.
8 herangezogen; mir vorgeworfen; getadelt.
" Maße.
raten. Es ist eine Sache des Ratens (Meinens, Dafür-
haltens), wenn wir eine Gestalt für die sAönste er-
klären.
** mit Mühe.
*2 größte.
*3 kann.
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io vnd alle jre arten durchsuch. Vnd jch haltz dafür,
je geneüer vnd geleicher ein bild den menschen
enlich gemaAt würdet, je pesser das selb werck
sey. Dann so man aüs hlen wolgestalten mensAen
an einem jtlichem sein hübschtes teil! jnn ein bild
i; ordenlich zie samen bringet, das ein solch werck
woll zu loben sey.*
Aber etlich sind einer andern meinvng, reden dar-
fan, wie die menschen solten sein. Solchs will jch mit
jnen nit krigen." Ich halt aber jnn solAem die natur
10 füer meister vnd der menschen wan füer jrsall."
Einmall hat der schopfer dye menschen gemacht,
wie sie müsen sein, vnd jA halt, das die reAt wol-
gestalt vnd hübsAeit vnder dem haüffen aller
mensAen begriffen sey. Welcher das reAt heraüs
15 zihen kann, dem will jA mer folgen dann dem, der
ein neü erdichte mas, der die menschen kein teill
gehabt haben, maAen will. Dann ein mall müs die
mensAliche gestalt beieiben ab gesAiden? van an-
dern creaturn, sie machens sunst, wie sie wollen.
30 Ob j A aber hie dorum angetzogen" würde, j A stel-
26. die) teili gernw/n???.
10. durchstich/ dafür/ 11. bild. 12. würdet/
13. sey. menschen/ 14. teill/ bild. 15. bringet/ 16. sey..
17. meinvng/ 18. sein/ 19. krigen/ 20. meister/ jrsall/ 22.
sein/ 23. hübscheit. 24. sey/ 23. kann/ folgen/ 27. haben,
will/ 28. beleihen. 29. wollen/ 30. würde/
let selbs besunder seltzam massen" der pilder, vm
das will jch mit [49"] nymant streiten. Aber dan-
nacht sind sie dorum nit vnmenschliA. Ich setz sie
aber dorum so weit fan ein ander, das ein jtlicher
vrsach doraüs nem vnd acht hab, wo jnn bedünck, 35
das jch jm zuhll oder zu wenig thu wider die natür-
liAen gestalt, das er das selbe meyde vnd der natür
folge. Dann man findet menAerley vnderschid jnn
allerley landen. Wer weit reiset, der würt es also
finden vnd selbs for aügen sehen. Van der hübsch- 40
ten gestalt der mensAen rotten*" wir. Aber der
macher der weit weis, wie die jnn einer perschan
sein solt, wir kümen sAwerlich** fan weiten ein
wenig hintzu, wen es woll gerett. Dann wir haben
eigen vnderschidlich sin, vnd der meinste*- teill, die 4;
jrem wolgefallen allein folgen, die jrren gewonliA.
Des halb mir zufolgen, will jA auA nymant bere-
den. Dann jch thu so vill jA mag,*" aber mir selbs
nit genüg.
37. natür) f/gVfifZ' liehen gestalt 38. vndersAid)
i/gTMr/' der menschlichen gestalt. 41. gestalt)
Zei/e; menschen) ge
31. pilder/ 32. streiten/ 34. ander/ 33.
nem/ hab/ 36. thu/ 37. gestalt/ 38. folge/ 39. landen/
40. sehen/ 41. wir. 42. weit. 43. solt/ 44. hintzu/ gerett/
43. sin/ 46. folgen, gewonlich/ 47. zufolgen. 47 f. bereden/
48. mag/
ANMERKUNGEN
* wohlüberlegt; Gegensatz „unbesunnen".
- damit.
3 ungefähr.
* Vgl. Bd. II Kap. I A Nr. 6.
3 Darüber will ich mit ihnen nicht streiten.
" Nach K. Lange die klassische Stelle für Dürers natu-
ralistisAe Kunstauffassung. Vgl. A 4 zu Nr. 1.
? Vgl. auA Lehre von mensAliAer Proportion (1528),
fol. Q3" (Lange-Fuhse, S. 211).
Zu dem von Kaufmann, aaO, S. 129, in einem be-
stimmten Sinn gedeuteten und von Panofsky, JahrbuA
für Kunstwissenschaff 1926, S. 173 ff., weiter erörterten
Begriff des „AbgesAiedenen" ist ergänzend auf K. Bo-
rinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie I, S. 149
und 290, zu verweisen, wo festgestellt wurde, daß
„die vergleichliAen Ding" und ihr Gegenteil „die an-
dern abgesAiedenen" identisA sind mit Ciceros auf
Platons avakoyla zurü&gehenden Begriff der Com-
paratio und dessen Gegensatz der Separatio.
Bemerkenswert ist auch, daß mhd. „abgescheiden" part.
adj., ebenso wie der Begriff der „vergleiAung", zum
WortsAatz der deutsAen Mystik gehört und „von
allem Äußerlichen losgelöst, abgeschieden, losgetrennt",
bedeutet. Das Substantivum dazu ist „abgesAeidenheit"
stf. Meister Eckhart hat einen ganzen Traktat (den
9.) über diesen Seelenzustand verfaßt (vgl. F. Pfeiffer,
Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, II,
Leipzig 1837, S. 483 ff.). AuA hier mag der Begriff
in Dürers Terminologie noA einen Rest seines Her-
kunffscharakters aus dem religiös-spekulativen BereiA
an sich tragen. Vgl. auch O. Zirker, Die BereiAerung
des deutschen Wortschatzes durA die spätmittelalter-
liche Mystik (Jena 1923), S. 17 f.
8 herangezogen; mir vorgeworfen; getadelt.
" Maße.
raten. Es ist eine Sache des Ratens (Meinens, Dafür-
haltens), wenn wir eine Gestalt für die sAönste er-
klären.
** mit Mühe.
*2 größte.
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