OSTGIEBEL: GE UND ERICHTHONIOS
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Vertikalschnitt
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der Ge überschreiten musste, so fällt solche Nötigung weg, und es ist anzuerkennen, dass das
Kind auch tiefer, z. B. mit seinem Hals in der Höhe des Ankerloches liegen und durch einen
im Winkel gebogenen Anker, wie er in einem ähnlichen Falle im olympischen Ostgiebel
Anwendung fand, getragen werden konnte. Ich habe unter diesen Umständen,
statt den Scheitel des Kindes bis an die Giebelschräge zu rücken, der Figur
eine etwas tiefere Lage gegeben, die den Vorteil bot, der so mühsam
bewegten Ge ein bequemeres Tragen zu ermöglichen. Es erhob sich ferner
die Frage, wie das Kind im einzelnen bewegt war. Dass es die Arme der
Athena entgegenstreckte, sagen uns die Parallelmonumente; der Kopf und
mindestens der obere Teil des Rumpfes erschienen also im Profil nach rechts,
und wir haben nun zu entscheiden, wie das Sitzen auf der rechten Hand der
Ge sich mit dieser Wendung zu Athena verträgt. Die naive Vasenmalerei
ist mit diesem Problem schnell fertig geworden und hat sich für solche Fälle
einen Typus zurecht gemacht, der Beine und Arme in genau entgegengesetzte
Richtung bringt1. Plastisch wäre solche Gestaltung unerträglich, es scheint
also, da die Richtung von Kopf und Armen gegeben ist, unvermeidlich, ihr
zu Liebe den ganzen Körper in's Profil nach rechts zu drehen, also der Ge
völlig abgewandt auf ihrer Rechten sitzen zu lassen, wie den kleinen Dionysos auf der Hand
des Zeus in jenem Schalenbild von der Akropolis2. Wir würden damit etwas Aehnliches erreichen
wie der Erfinder des in zwei Wiederholungen erhaltenen Erichthoniosreliefs, der beide, Kind
und Pflegerin, völlig in's Profil stellte. Das konnte er aber nur, weil seine Ge beide Hände
frei hatte, und gewiss hätte er sich anders beholfen, wenn nur eine der Hände hätte tragen
sollen. Denn mag der Beschauer dem Götterkind noch so aussergewöhnliche Kräfte zuschreiben,
es ist und bleibt eine Unnatürlichkeit, ein kleines Kind mit den Beinen nach aussen auf eine
Hand zu setzen, während es durchaus erlaubt ist, es mit den Beinen nach innen in diese
Stellung zu bringen, die deshalb ungefährlich wäre, weil im Moment des Wankens ein Ruck
des tragenden Armes das Kind in seiner ganzen Länge gegen den Leib der Trägerin drücken
würde. Wollen wir diesen natürlichen Sitz auch in unserer Gruppe erzielen, so müssen wir
die Beine des Kindes nach links und jenseits der tragenden Hand legen, scheinen also geradezu
gezwungen, jenen Typus der Vasenmaler zu wählen, der doch ebenso sehr aller Möglichkeit
spottet. Es giebt hier nur einen einzigen Ausweg: mit den Beinen nach links, mit den Armen
nach rechts kann das Kind auf der einen Hand seiner Trägerin ungezwungen nur dann sitzen,
wenn es sich nicht linksum an dem Beschauer, sondern rechtsum an der Giebelwand vorüber
dreht, also dem Beschauer den Rücken kehrt. Das scheint auf den ersten Blick freilich
unerlaubt kühn, und noch am Parthenon würde ich ein solches Wagnis für ausgeschlossen
halten. Nun ist aber längst behauptet worden und wird sich noch bestimmter herausstellen,
dass die Skulpturen des Hephaistostempels stilistisch jünger als die des Parthenon sind und
sie vielfach nicht nur nachahmen, sondern mit ■ voller Absicht überbieten, und insbesondere das
der Malerei längst geläufige Motiv der Rückenansicht hat der Meister unserer Skulpturen so
geliebt, dass er es in den Friesen und Metopen im ganzen siebenmal angebracht hat. Ein
1 Ausser der Londoner Erichthonioshydria (oben S. 60) und den S. 72 Antn. I zusammengestellten Monumenten kommen
besonders die Darstellungen der Kindheitspflege des Dionysos (vgl. Heydemann, Dionysos Geburt und Kindheit S. 21 ff.) in Betracht,
von denen ich als Werk unserer Epoche das schöne Bild des vatikanischen Kraters hervorhebe.
2 Jahrb. d. Inst. VI (1891) Taf. I vgl. oben S. 72 Anm. I.
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der Ge überschreiten musste, so fällt solche Nötigung weg, und es ist anzuerkennen, dass das
Kind auch tiefer, z. B. mit seinem Hals in der Höhe des Ankerloches liegen und durch einen
im Winkel gebogenen Anker, wie er in einem ähnlichen Falle im olympischen Ostgiebel
Anwendung fand, getragen werden konnte. Ich habe unter diesen Umständen,
statt den Scheitel des Kindes bis an die Giebelschräge zu rücken, der Figur
eine etwas tiefere Lage gegeben, die den Vorteil bot, der so mühsam
bewegten Ge ein bequemeres Tragen zu ermöglichen. Es erhob sich ferner
die Frage, wie das Kind im einzelnen bewegt war. Dass es die Arme der
Athena entgegenstreckte, sagen uns die Parallelmonumente; der Kopf und
mindestens der obere Teil des Rumpfes erschienen also im Profil nach rechts,
und wir haben nun zu entscheiden, wie das Sitzen auf der rechten Hand der
Ge sich mit dieser Wendung zu Athena verträgt. Die naive Vasenmalerei
ist mit diesem Problem schnell fertig geworden und hat sich für solche Fälle
einen Typus zurecht gemacht, der Beine und Arme in genau entgegengesetzte
Richtung bringt1. Plastisch wäre solche Gestaltung unerträglich, es scheint
also, da die Richtung von Kopf und Armen gegeben ist, unvermeidlich, ihr
zu Liebe den ganzen Körper in's Profil nach rechts zu drehen, also der Ge
völlig abgewandt auf ihrer Rechten sitzen zu lassen, wie den kleinen Dionysos auf der Hand
des Zeus in jenem Schalenbild von der Akropolis2. Wir würden damit etwas Aehnliches erreichen
wie der Erfinder des in zwei Wiederholungen erhaltenen Erichthoniosreliefs, der beide, Kind
und Pflegerin, völlig in's Profil stellte. Das konnte er aber nur, weil seine Ge beide Hände
frei hatte, und gewiss hätte er sich anders beholfen, wenn nur eine der Hände hätte tragen
sollen. Denn mag der Beschauer dem Götterkind noch so aussergewöhnliche Kräfte zuschreiben,
es ist und bleibt eine Unnatürlichkeit, ein kleines Kind mit den Beinen nach aussen auf eine
Hand zu setzen, während es durchaus erlaubt ist, es mit den Beinen nach innen in diese
Stellung zu bringen, die deshalb ungefährlich wäre, weil im Moment des Wankens ein Ruck
des tragenden Armes das Kind in seiner ganzen Länge gegen den Leib der Trägerin drücken
würde. Wollen wir diesen natürlichen Sitz auch in unserer Gruppe erzielen, so müssen wir
die Beine des Kindes nach links und jenseits der tragenden Hand legen, scheinen also geradezu
gezwungen, jenen Typus der Vasenmaler zu wählen, der doch ebenso sehr aller Möglichkeit
spottet. Es giebt hier nur einen einzigen Ausweg: mit den Beinen nach links, mit den Armen
nach rechts kann das Kind auf der einen Hand seiner Trägerin ungezwungen nur dann sitzen,
wenn es sich nicht linksum an dem Beschauer, sondern rechtsum an der Giebelwand vorüber
dreht, also dem Beschauer den Rücken kehrt. Das scheint auf den ersten Blick freilich
unerlaubt kühn, und noch am Parthenon würde ich ein solches Wagnis für ausgeschlossen
halten. Nun ist aber längst behauptet worden und wird sich noch bestimmter herausstellen,
dass die Skulpturen des Hephaistostempels stilistisch jünger als die des Parthenon sind und
sie vielfach nicht nur nachahmen, sondern mit ■ voller Absicht überbieten, und insbesondere das
der Malerei längst geläufige Motiv der Rückenansicht hat der Meister unserer Skulpturen so
geliebt, dass er es in den Friesen und Metopen im ganzen siebenmal angebracht hat. Ein
1 Ausser der Londoner Erichthonioshydria (oben S. 60) und den S. 72 Antn. I zusammengestellten Monumenten kommen
besonders die Darstellungen der Kindheitspflege des Dionysos (vgl. Heydemann, Dionysos Geburt und Kindheit S. 21 ff.) in Betracht,
von denen ich als Werk unserer Epoche das schöne Bild des vatikanischen Kraters hervorhebe.
2 Jahrb. d. Inst. VI (1891) Taf. I vgl. oben S. 72 Anm. I.