86 AUSGESTALTUNG DER GIEBELGRUPPEN
ernstliches Bedenken gegen die vorgeschlagene Stellung des Erichthonioskindes besteht also
nicht; dafür aber gewinnen wir eine ungezwungene, durch gefällige Linien sich empfehlende
Gruppierung, nämlich im Prinzip genau die des Tritons mit dem Theseusknaben auf dem Krater
von Bologna1. Erst jetzt kann der rechte Arm der Ge so weit vom Körper abrücken, dass
das Kind über den Giebelrand und damit erst ganz in das Blickfeld der schräg an Pandrosos
vorüber schauenden Athena kommt; erst jetzt überzeugt man sich, dass es nicht gut anging,
zwischen Kind und Ge marmorne Stützen stehen zu lassen, dass vielmehr ein anderes Be-
festigüngsmittel als der Wandanker kaum übrig blieb. Die Erscheinung des Kindes bestimmte
das Berliner Schalenbild. Auch die umgehängte Schnur mit dem Amulett nicht wegzulassen,
forderte die Wiederkehr dieser Einzelheit in vier anderen Erichthoniosdarstellungen; ich sehe
in diesem Attribut, wie schon erwähnt, nicht nur wie so oft in Kinderdarstellungen ein
beliebiges Amulett, sondern das Behältnis der wunderwirkenden Tropfen Gorgobiutes, die wir
im euripideischen Ion im Besitz der Erichthoniosenkelin Kreusa finden.
Für den schlangenleibigen Kekrops gab die Berliner Schale ein vortreffliches Muster
ab; vor allem bestimmte sie die Zusammenfügung von Mensch und Schlange, die Anlage des
Chitons, das Szepter; dagegen richtete sich der Verlauf der Schlangen Windungen einfach nach
der Giebelschräge und der Länge der Bettung. Dass die Stifte die Arme oder Hände stützten,
war klar, und die Lage des höher und links gelegenen ti passte so gut auf die rechte Hand,
die das in t eingelassene Szepter umfasste, dass nur die Haltung und Thätigkeit der linken
unbestimmt blieb; hier hat der Chiusiner Krater die zur Lage von v und zum Sinne des Ganzen
vorzüglich passende Geberde des Staunens geliefert2. Natürlich konnte die Hand auch ein
Attribut, z. B. den Olivenzweig des Berliner Terrakottareliefs, tragen.
Mit diesen sieben Personen war die Szene so breit wie man nur wünschen konnte
dargestellt, aber genau so wie der Vasenmaler sah sich unser Künstler genötigt, noch weitere
Personen einzuführen. Standesgenossen des Kekrops, urattische Könige waren es dort, Füll-
figuren, die ohne rücksichtslose Anachronismen gar nicht in die Szene hereinzuziehen waren.
Ganz so naiv verfuhr unser Künstler gewiss nicht. Für Könige waren die Giebelecken kein
Platz, Wesen, die erst nach Erichthonios geboren waren, und vollends gemeine Menschen
konnte er nicht einzuführen wagen. Man stelle sich nur vor, das Mädchen C sei eine gewöhn-
liche Sterbliche; würde das vorlaute Plaudern der Aglauros dann nicht ein Frevel sein so gross
wie der, den sie später, mit todbringendem Wahnsinn büsst? Mindestens vom Range der
Kekropsfamilie, die selbst nicht mehr zu erweitern war3, also heroisch oder göttlich muss C
und somit auch die anderen Nebenfiguren B. L. M sein, Götter oder Heroen zwar niederen
Ranges, aber von Alters her in Attika oder eher noch in Athen selbst verehrte, wählte der
Künstler, um seine Szene einzurahmen. Das Weib und der Knabe rechts, der Jüngling oder
Mann und das Mädchen links, wer sind sie? Noch vor zehn Jahren hätten wohl die meisten
Forscher geantwortet: Lokalgötter. Heute sind diese Geschöpfe so in Verruf gekommen, dass
man sich fast scheuen muss, sie der Kunst des 5. Jahrhunderts zuzutrauen4. Dennoch sage
1 S. die Abbildung S. 75.'
2 Dass der Stift in v ostwestlich verläuft, statt etwas nach WNW abzuweichen, ist ein kleines Versehen der Rekonstruktion;
die Hand müsste also noch mehr gegen die Mitte hin rücken, sodass sie sich vor das Szepter schob.
3 Höchstens könnte man den Knaben L Erysichthon nennen; dann giebt es aber wieder für sein Gegenstück C keinen
entsprechenden Namen.
4 Ich freue mich aus Robert's Marathonschlacht S. 32 zu ersehen, dass der Forscher, dem wir die tiefsten Einblicke in
Wesen und Wirkungen polygnotischer Kunst verdanken, das herrschende Vorurteil nicht teilt.
ernstliches Bedenken gegen die vorgeschlagene Stellung des Erichthonioskindes besteht also
nicht; dafür aber gewinnen wir eine ungezwungene, durch gefällige Linien sich empfehlende
Gruppierung, nämlich im Prinzip genau die des Tritons mit dem Theseusknaben auf dem Krater
von Bologna1. Erst jetzt kann der rechte Arm der Ge so weit vom Körper abrücken, dass
das Kind über den Giebelrand und damit erst ganz in das Blickfeld der schräg an Pandrosos
vorüber schauenden Athena kommt; erst jetzt überzeugt man sich, dass es nicht gut anging,
zwischen Kind und Ge marmorne Stützen stehen zu lassen, dass vielmehr ein anderes Be-
festigüngsmittel als der Wandanker kaum übrig blieb. Die Erscheinung des Kindes bestimmte
das Berliner Schalenbild. Auch die umgehängte Schnur mit dem Amulett nicht wegzulassen,
forderte die Wiederkehr dieser Einzelheit in vier anderen Erichthoniosdarstellungen; ich sehe
in diesem Attribut, wie schon erwähnt, nicht nur wie so oft in Kinderdarstellungen ein
beliebiges Amulett, sondern das Behältnis der wunderwirkenden Tropfen Gorgobiutes, die wir
im euripideischen Ion im Besitz der Erichthoniosenkelin Kreusa finden.
Für den schlangenleibigen Kekrops gab die Berliner Schale ein vortreffliches Muster
ab; vor allem bestimmte sie die Zusammenfügung von Mensch und Schlange, die Anlage des
Chitons, das Szepter; dagegen richtete sich der Verlauf der Schlangen Windungen einfach nach
der Giebelschräge und der Länge der Bettung. Dass die Stifte die Arme oder Hände stützten,
war klar, und die Lage des höher und links gelegenen ti passte so gut auf die rechte Hand,
die das in t eingelassene Szepter umfasste, dass nur die Haltung und Thätigkeit der linken
unbestimmt blieb; hier hat der Chiusiner Krater die zur Lage von v und zum Sinne des Ganzen
vorzüglich passende Geberde des Staunens geliefert2. Natürlich konnte die Hand auch ein
Attribut, z. B. den Olivenzweig des Berliner Terrakottareliefs, tragen.
Mit diesen sieben Personen war die Szene so breit wie man nur wünschen konnte
dargestellt, aber genau so wie der Vasenmaler sah sich unser Künstler genötigt, noch weitere
Personen einzuführen. Standesgenossen des Kekrops, urattische Könige waren es dort, Füll-
figuren, die ohne rücksichtslose Anachronismen gar nicht in die Szene hereinzuziehen waren.
Ganz so naiv verfuhr unser Künstler gewiss nicht. Für Könige waren die Giebelecken kein
Platz, Wesen, die erst nach Erichthonios geboren waren, und vollends gemeine Menschen
konnte er nicht einzuführen wagen. Man stelle sich nur vor, das Mädchen C sei eine gewöhn-
liche Sterbliche; würde das vorlaute Plaudern der Aglauros dann nicht ein Frevel sein so gross
wie der, den sie später, mit todbringendem Wahnsinn büsst? Mindestens vom Range der
Kekropsfamilie, die selbst nicht mehr zu erweitern war3, also heroisch oder göttlich muss C
und somit auch die anderen Nebenfiguren B. L. M sein, Götter oder Heroen zwar niederen
Ranges, aber von Alters her in Attika oder eher noch in Athen selbst verehrte, wählte der
Künstler, um seine Szene einzurahmen. Das Weib und der Knabe rechts, der Jüngling oder
Mann und das Mädchen links, wer sind sie? Noch vor zehn Jahren hätten wohl die meisten
Forscher geantwortet: Lokalgötter. Heute sind diese Geschöpfe so in Verruf gekommen, dass
man sich fast scheuen muss, sie der Kunst des 5. Jahrhunderts zuzutrauen4. Dennoch sage
1 S. die Abbildung S. 75.'
2 Dass der Stift in v ostwestlich verläuft, statt etwas nach WNW abzuweichen, ist ein kleines Versehen der Rekonstruktion;
die Hand müsste also noch mehr gegen die Mitte hin rücken, sodass sie sich vor das Szepter schob.
3 Höchstens könnte man den Knaben L Erysichthon nennen; dann giebt es aber wieder für sein Gegenstück C keinen
entsprechenden Namen.
4 Ich freue mich aus Robert's Marathonschlacht S. 32 zu ersehen, dass der Forscher, dem wir die tiefsten Einblicke in
Wesen und Wirkungen polygnotischer Kunst verdanken, das herrschende Vorurteil nicht teilt.