Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Schäfer, Heinrich; Frank, Carl; Winter, Franz
Kunstgeschichte in Bildern: neue Bearbeitung; systematische Darstellung der Entwicklung der bildenden Kunst vom klassischen Altertum bis zur neueren Zeit (1): Altertum — 1912

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.49707#0120
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
100

Die Kunst der Homerischen Zeit.

Krieg und Kult; zahlreiche Schiffsbilder erzählen von
kriegerischen Unternehmungen zur See, weisen aber
in keinem deutlichen Falle auf Handelsschiffahrt
hin (S. 112). Die Bilder schildern ausschließlich
Vorgänge aus dem Leben. Darin gleichen sie den
Bildern der kretisch-mykenischen Kunst, nur daß
das Leben hier und dort ein anderes war. In der
Art der Schilderung aber ist kein stärkerer Gegen-
saß denkbar. Ist auf den kretisch-mykenischen Bildern
lauter Gesehenes wiedergegeben aus lebendigster
Anschauung und Beobachtung der Wirklichkeit, in
der das Objekt immer als Ganzes in seiner Er-
scheinung erfaßt ist, so hat an den Darstellungen
der Dipylonvasen das Auge den allergeringsten An-
teil. Die Figuren lind wie Gedächtnisbilder aus
einem Wissen von wenigen wesentlichen Einzelheiten
der körperlichen Gestaltung heraus geschaffen und
aus diesen Einzelheiten zusammengeseßt. Sie sagen
nicht: so Geht die Natur aus, sondern: dies soll ein
Mensch oder ein Pferd oder ein Wagen oder ein
Schiff sein, sie bezeichnen die Natur mehr, als daß
sie sie abbilden; der Inhalt ist in diesen Darstellungen
alles. Es wird nicht geschildert, sondern mitgeteilt,
und so ausführlich, wie es mit den beschränkten
Mitteln und in der durch die gewollte geometrische
Stilisierung gesteigerten Unbeholfenheit des Aus-
drucks nur möglich ist. Bei der Wiedergabe des
Schiffes mit den Ruderern kommt es dem Maler
darauf an, zu zeigen, daß die Ruderer auf beiden
Seiten sißen, er zeichnet sie in zwei Reihen über-
einander (S. 112, 2), und ebenso sind auf der Vase
S. 111, 2 die Bodensläche des Wagens wie auf-
geklappt, die Totenbahre nicht in, sondern über
dem Wagen und der Tote über der Kline darge-
stellt. Für alle fehlende Anschauung entschädigt die
Erzählung. Man liest die Bilder mehr als daß man
sie schaut und freut sich des vielen Tatsächlichen,
was sie enthalten und was sie zu wertvollen kultur-
geschichtlichen Zeugnisien macht, aus denen wir von
den Sitten und Zuständen des damaligen Athen
erfahren. Ist es auch noch so unbeholfen vorge-
tragen, so hat es doch Charakter. In diesem aber
offenbart sich ein Grundzug der attischen Kunst, der
hier in ihren frühesten Erzeugnissen schon erkenn-
bar hervortritt. Mitteilsam wie keine andere ist
sie in der Folge mit dem Fortsehreiten der künst-
lerischen Ausführung zur vollendeten Durchdringung
von Inhalt und Form aufgestiegen.

Die Berührung mit der orientalisierenden Kunst,
mit der die geometrische im südöstlichen griechischen
Gebiete, in Kleinasien, auf Rhodos und Kreta un-
mittelbar zusammentraf, hat eine Umwandlung des
geometrischen Stiles herbeigeführt und damit den
Ausgangspunkt für die Entwicklung geschaffen, in
der sich die klassische griechische Dekoration ge-
bildet hat. Die Abbildungen S. 115 — 117 erläutern
den Vorgang, wie er sich in der Vasenmalerei voll-
zogen hat, in der wir ihn am deutlichsten verfolgen.
An Stelle der zahmen Tiere, der Pferde, Rehe,
Vögel, deren der nächsten ländlichen Umgebung ent-
nommene Darstellung die Art der geometrischen Kul-
tur so charakteristisch bezeichnet, treten die wilden
Tiere, die Löwen, Panther und Fabelwesen der
orientalischen und der kretisch-mykenischen Kunst
und zugleich zieht die stilisierte Pflanzendekoration
in die geometrische Ornamentik ein und mischt sich
mit deren Formen, die teils weiter geführt, teils aus
dem Linearen ins Volle und Runde umgebildet
werden. Der Vorgang fällt und hängt zusammen
mit dem Beginne der Ausbreitung der Griechen
nach außen durch die Kolonisation und ihr Eintreten
in den Mittelmeerhandel. Die ältesten in Italien
auftretenden griechischen Tongefäße, solche der sog.
protokorinthischen Gattung (S. 117), gehören der
Epoche dieser Wandlung an und erscheinen in
etruskischen Gräbern zusammen mit dem reichen
phönikischen Import (S. 103 ff), der anfangs in dieser
Zeit noch den weltlichen Markt beherrschte, bis er
zu Beginn des siebenten Jahrhunderts der rasch
auf blühenden griechischen Konkurrenz erlag.

Literatur:
Perrot et Chipiez, Histoire de l’art dans l’anti-
quite III 1885, VII 1898. — W. Helbig, Das homerische
Epos aus den Denkmälern erläutert21887. — Montelius,
La civilisation primitive en Italie 1895. — Fr. Poulsen,
Der Orient und die frühgriediische Kunst 1912. — Conze,
Zur Geschichte der Anfänge griechisdier Kunst, Sißungs-
berichte der Wiener Akademie 1870, 1873, Sitzungsberichte
der Berliner Akademie 1896. — H. Brunn, Griechische
Kunstgeschichte I 1893. — S. Wide, Jahrbuch des Deut-
sdien Archäol. Instituts XIV 1899, XVI 1900. - Dragen-
dorff, Theräisthe Gräber (Hiller von Gärtringen,Thera II)
1903. - A. Brückner und E. Pernice, Mitteilungen des
Athenischen Instituts XVIII 1893. — C. Schuchhardt,
Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen 1916, 1551F. —
 
Annotationen