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Schmidt, Richard
Fakire und Fakirtum im alten und modernen Indien: Yoga-Lehre und Yoga-Praxis nach den indischen Originalquellen — Berlin, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.2370#0060
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— 43 —

leiden, in welchem Zustande sie dann von den Göttern in höchst-
eigener Person aufgesucht werden und stets ein andächtiges
Publikum haben — neben diesen neurotischen Heiligen stehen
diejenigen Sädhus, denen der Glaube der Hindus Zauberkräfte
zuschreibt, mögen sie nun zumGuten oder Bösen benutzt werden.
Es ist überflüssig, darauf hinzuweisen, daß dieselbe Erscheinung
überall und zu allen Zeiten zu beobachten gewesen ist. Nur
sehen wir in Indien die erfreuliche Tatsache, daß die — sit venia
verbo — Kirche1) nicht gegen solche Wundertäter mit Feuer
und Schwert gewütet hat; im Gegenteil: der Mantel der Kirche
hat sich dort als dehnbar genug erwiesen, um auch die Zauberer
zu decken (Oman, p. 53). Die Brahmanen, die doch wohl an-
erkanntermaßen die schlauesten aller Priester gewesen sind, be-
sitzen ja als viertes heiliges Buch den „Veda der Zauberer",
Atharvaveda, mit dem sie selber die Rolle der obersten Zauberer
übernahmen; und so konnte Bloomfield in der Einleitung zu
seiner Übersetzung des Atharvaveda (Sacred Books of the East,
Vol. XLII) sagen: „Selbst die Zauberei ist ein Bestandteil der
Hindu-Religion; sie hat die heiligsten vedischen Riten durch-
drungen und sich mit ihnen innig vermischt; der breite Strom
der Volksreligion und des Aberglaubens hat sich durch zahl-
lose Kanäle in die höhere Religion einfiltriert, die von den
Brahmanen vorgestellt wird, und man kann annehmen, daß
einerseits diese Priester gar nicht imstande waren, ihren
eigenen religiösen Glauben von. der Masse von Volksglauben zu
reinigen, von der er umgeben war, wie es anderseits durchaus
wahrscheinlich ist, daß das gar nicht in ihrem Interesse ge-
wesen wäre."

Natürlich erfreut sich ja der Atharvaveda nicht derselben
hohen Wertschätzung wie die drei anderen Veden, die recht
eigentlich der Priesterschaft angehören; auch ist er der Zeit der
Abfassung nach der jüngere — womit nicht gesagt werden soll,
daß nun auch sein Inhalt immer sekundär sein muß —, aber die
Zauberei, das Wundertun ist eine ganz alte Geschichte in
Indien: die Literatur wimmelt von einschlägigen Erzählungen!

Das Kämasütram nimmt Bezug auf „Beschwörungen" und
„Behexungen", welche beiden Begriffe so definiert werden, daß

J) Eine „Kirche" in unserem Sinne hat es in Indien nie gegeben.
 
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