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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0197
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Textile Kunst. Stoffe. Seide.

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Seidenstoffe bei den Chinesen bis in das 26. Jahrhundert vor
unserer Zeitrechnung aus Urkunden nachweislich.
Von ihnen erst erlernten die Inder den Seidenbau, nachdem
sie wahrscheinlich lange Zeit hindurch die köstlichen serischen
Stoffe aus China durch den Handel bezogen hatten. Seidene
Kleider sind in dem Ramajäna festliche Kleider, für Fürsten-
(Arazzis) das Prinzip der Renaissance, der Einfluss der höheren Kunst (der
Malerei) auf die Kleinkunst des Weberstuhles bereits zu erkennen.
Im Laufe dieser Periode behalten die Stoffe „von Jenseit des Meeres,“ so
wie die maurischen Spaniens neben den europäischen Fabrikaten, noch immer
ihren alten Rang’, wenn schon in steter Abnahme begriffen. Das reingeome-
trische Muster, ähnlich den blumendurchwirkten Bandgeflechten auf den Ge-
täfeln der Alhambra, neben dem Damastmuster, bezeichnet diese späteren
maurischen Fabrikate.
Die italienische Manufaktur findet zu Ende dieser Periode gefährliche
Konkurrenten in den Fabrikstädten, die nach und nach im Westen unter dem
kunstfertigen Einflusseherangezogener italienischer Auswanderer emporblühen;
Lyon, Tours, Vitre in Bretagne. Später (16. Jahrh.) Montpellier, Orleans, Paris.
— Frühe Etablissements zu Brügge, Gent, Mecheln, Ypern, schon im 13.
Jahrhundert gegründet, besonders berühmt durch die Satins und Sammtstoffe,
die dort bereitet wurden.
Die fünfte Periode bereitet sich mit dem Anfänge des 15. Jahrhunderts vor.
Die Kleinkünste, unter ihnen die textilen Künste, folgen der herrschend wer-
denden Richtung und zeigen in dem Prinzipe der Ornamentation ein freies Wie-
deranschliessen an die verlassenen Traditionen der indogermanischen (gräkoitali-
schen) Kunst, mit Verleugnung tausendjähriger barbarischer Einflüsse des Ostens.
Mehr noch bewährt sich der neuerwachte Sinn für Harmonie und die bessere Rich-
tung des Geschmacks in dem Kleiderwesen und den Draperien durch die Unter-
ordnung dieser letzteren unter dasjenige, dem sie dienend sich anschliesseu, durch
minder schreiende Farben und Vermeiden des Bunten. Vorherrschen der eintöni-
gen Stoffe, des Weissen, Braunen, Violetten, Schwarzen, überhaupt des Dunkel-
farbigen mit Goldverzierungen; wohlberechnetes Verhältniss des Musters zu dem
Bekleideten in Form und Farbe. Absichtliches Vermeiden des Bedeutungsvol-
len (Symbolischen) in den Mustern, das allerdings in der Zeit der Spät-
rennaissance, als der freie, kecke und phantasiereiche Geist des 15. und 16.
Jahrh. nachliess und ein kalter klassischer Schematismus dafür an die Stelle
trat, eine gewisse Leerheit in den Formen dieser letzteren nach sich zieht.
Wahrer Damaststil auf den Bildern von Paul Veronese. Wahrer Stickereistil
auf denen des Raphael. Wahrer Sammtstil auf denen des Titian. Wohlver-
standener Seidenstil selbst noch im Zeitalter Ludwigs XIV. Das Verkümmern
der liturgischen Gewänder in dieser Periode ein unbewusster aber gesunder
Protest gegen den Assyrismus derselben. Die grossartigen histonirten Tapeten,
das Höchsterreichbare des Webstuhls, gehören der Frühzeit dieser Periode
an und sind Produkte der erhabensten Kunstentwicklung. Warum also dieselben
gegen die früheren Verschrobenheiten zurückstellen?
 
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