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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0336
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286

Viertes Hauptstiick.

Das älteste Vorkommen einer monumentalen Vorrichtung zu
der Aufnahme von Velen sind die gigantischen isolirt stehenden
Säulen, welche eine Gasse bildend den grossen Vorhof des Tem-
pels zu Karnak in Theben in der Mitte durchschnitten und von
denen noch einige aufrecht stehen. Ihre Bestimmung ergibt sich
aus den Wandmalereien dieses 948 Jahre vor unserer Zeitrechnung
gebauten Tempelvorhofs, worauf ganz ähnliche Säulen mit einem
Aufsatze abgebildet sind und ihre Bestimmung, ein prachtvolles
Himmeldach aus Stoffen zu stützen, verrathen. Wir werden auf
dieselben zurückkommen und zeigen welche Bedeutung sie in
der Stilgeschichte ägyptischer Baukunst einnehmen.
Die Parapetasmen der römischen Atrien und Peristile be-
standen aus den reichsten Stoffen, oft aus Purpur, waren wie
jenes im Ion geschilderte mit Himmelszeichen, dem Sonnengotte,
der Eos, der Iris und anderen den Uranos1 bezeichnenden Bil-
dern bestickt oder wenigstens mit Sternen übersäet, und wurden
in malerischer Drappirung und mit reichstem Faltenwürfe über
den Säulen durch seidene oder goldene vollbequastete Schnüre
befestigt. Dieses ergiebt sich deutlich aus vielen der schönsten
Wandgemälde aus römischer Zeit.
Die Parapetasmen der Atrien werden von Vitruv interpensiva
genannt, denn so muss der Ausdruck verstanden werden, wenn er
im dritten Kapitel des sechsten Buchs den Nutzen der Stützsäulen
der Atrien hervorhebt, die gestatten, die Unterzüge leichter zu hal-
ten, da sie die Last der aufgehängten Decken nicht zu tragen hätten.
Der Ausdruck ,,interpensiva“ diente auch in spätrömischer
Zeit zur eigentlichsten Bezeichnung derjenigen «Velen und Decken,
die zur Beschattung der Strassen und Passagen aufgehängt wur-
den. Dieser Gebrauch, der in dem luxuriösen theodosischen Zeit-
alter auf asiatische Weise allgemein wurde, war auch schon in
früher Zeit bei den Griechen bekannt, obschon er als Zeichen des
verweichlichten Luxus galt. So berichtet Timäus von den Sybariten
dass sie die Wege, die zu ihren Villen führten, bedeckten. Viel-
leicht waren diese Lauben der Sybariten, nach Art der persischen
Strassen, durch konstruirte Decken (6<hü ««Tßcrrsyo«) beschattet. 2
1 Artaxerx.es schenkte dem Timagoras unter anderen Gegenständen ,,ein bunt-
gesticktes Himmelszelt.“ (GyttfvTiv ovyavogocpov av&tvTjv.) Heraclides in Athen H. 31.
2 Timaeus in Athenaeo. XII. 17. (c. 3. pag. 519. ed. Cas.), Coste & Flan-
din Voyage en Ferse.
 
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