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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0124
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Rudolf Staehlin

Sie ist in der teuren Heimat, im väterlichen Palast zu Argos,
wie einst in den Tagen sonniger Kindheit1. Der zweite Teil
knüpft an den ersten an: der Boden beginnt zu wanken, die
Zinne des Daches stürzt, der ganze Palast fällt in Trümmer.
Nur eine einzige Säule2 bleibt aufrecht stehen. Der dritte
Teil läßt ihre geheime Hoffnung sich erfüllen, daß Orestes
kommen wird. Aus der Säule wird die Gestalt des Jünglings 3,
der Ort wechselt von Argos nach Taurien, oder vielmehr es
wird der Jungfrau im Traum, wo alle Hemmungen und Gegen-
vorstellungen ausgeschaltet sind, der Ortswechsel nicht be-
wußt. Die Priesterin vollzieht an dem Jüngling mechanisch
ihr gewohntes Amt und weiht ihn unter Tränen zum Schlacht-
opfer wg 3avofyevov. Damit ist der Traum zu Ende; was
weiter mit dem Jüngling geschieht, das weiß sie nicht und
sieht sie auch nicht, denn sie weiht nur das Opfer, das Schlacht-
werk selbst wird stets von anderen im Heiligtum vollzogen (624).

1 Der Chor äußert denselben Wunsch: er möchte, wenn auch nur im
Traum, die Heimat wiedersehen (452 ff.).

2 Iphigeneia sagt V. 57 orvloc ydg otxcov &al nazdes doaeres; sie weist
damit offenbar auf eine zur Zeit des Tragikers ganz feststehende Deutung
der „Säule" im Traum hin. Artemidoros II 10 sagt von den 3^yxol, die
zerstört werden: ol de d^tyxoi ovyyei'cov xac g^cov (sc. dXedoov ^avrevovTai);
aber er benützt in seinem Traumbuch den Euripides ausdrücklich als Quelle,
also höchst wahrscheinlich auch hier, vgl. Bruhn im Kommentar zur Stelle.
Der metaphorische Gebrauch von „Säule" für stützendes Familienglied ist
leicht verständlich und viel angewendet, z. B. Plautus Epidicus 189 Senati
qui columen cluent, oder Pseudoseneca Octavia 168 modo sidus orbis,
columen augustae domus (sc. Britannicus); Seneca Troades 124 columen
patriae (sc. Hector); Pollux III 12 r&xva .. . oTg^y^aza oexov ^ ßlov;
Komikerfragment bei Charisius inst, gramm. IV 284 f.: familiae domuique
columen.

3 Das erklärt sich durch Association; der Traum ist eine Art „Asso-
ciationstraum", dessen Gesetz Scherner (Das Leben des Traums, Berlin
1861, 145) folgendermaßen aufstellt: „Vorstellungsobjekte, welche in zu-
fälligen Momenten einander gleichen, knüpfen sich zu Traumketten und
bilden mittels des beschauend oder handelnd dabei mittätig erscheinenden
Traumichs entwickelte Connexformen." Scherner gibt aaO. eine reiche Fülle
von Beispielen solcher Verwandlungen. Der Übergang von Personen in
leblose Gegenstände und umgekehrt ist nicht selten beobachtet, vgl. darüber
auch Spitta, Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele mit
besonderer Berücksichtigung ihrer Verhältnisse zu den psychischen Alie-
nationen (Freiburg i. B. 1892) 340ff.
 
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