Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Steinmann, Ernst; Michelangelo [Hrsg.]; Lewald, Theodor [Gefeierte Pers.]
Michelangelo im Spiegel seiner Zeit — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 8: Leipzig: Poeschel & Trepte, 1930

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47058#0070
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
er - wenn auch erfolglos - versuchte, das verwaiste Haus am Macell de’ Corvi
mit Beschlag zu belegen.
So ist Michelangelo immer Mensch unter Menschen geblieben, allen Schicksals-
schlägen, allen Zufälligkeiten des Lebens ausgesetzt wie jeder andere - mochten
ihn seine Zeitgenossen auch den Göttlichen nennen, ihn dem Erzengel Michael
vergleichen und seine Verdienste, seine Charaktereigenschaften in den Himmel
erheben.
Aber wenn es außer Paolo Giovio und Pietro Aretino unter seinen Zeitgenossen
auch niemand gewagt hat, seinen persönlichen Charakter anzutasten, seine Kunst
und vor allem sein Jüngstes Gericht gab im Zeitalter der Gegenreformation sehr
bald der Prüderie Gelegenheit, sich zu entsetzen. Wer sollte es für möglich halten,
daß auch die Pieta von St. Peter bei frommen Seelen Anstoß erregte? Als im
März 1549 in S. Spirito die Kopie der Pieta von Nanni di Baccio Bigio aufge-
stellt wurde, die Luigi del Riccio als Denkmal der Erinnerung seiner Freund-
schaft mit Michelangelo der Vaterstadt gestiftet hatte, schrieb ein Florentiner
Chronist: „Man sagt, daß diese Pieta eine Erfindung Michelangelos ist, des
Erfinders aller Unanständigkeiten, dem es nur um die Kunst, nicht aber um die
Frömmigkeit zu tun ist. Wehe, daß alle Maler und Bildhauer von heute in der
Nachahmung lutherischer Spitzfindigkeiten in den gottgeweihten Kirchen nichts
anderes mehr malen und meißeln, als Gestalten, die den Glauben und die Fröm-
migkeit untergraben. Möchte Gott eines Tages seine Heiligen senden, solche
Götzenbilder wie dieses von der Erde wegzufegen!“1
Läßt sich in Florenz diesem merkwürdigen Zeugnis nichts Ähnliches an die Seite
stellen, so wurde in Venedig mehr als eine kritische Stimme über das Jüngste
Gericht laut, mochte es auch noch Michelangelo Biondo in seiner „Nobilissima
Pittura“, die im Jahre 1549 in Venedig erschien, als das größte Wunderwerk
preisen, das jemals ein Maler in allen Zeiten vollbracht habe2. Aretino erhob vor
allem seine Stimme, in seiner Eitelkeit von Buonarroti aufs tiefste verletzt, und
brachte gegen das Jüngste Gericht die gleichen Argumente vor, wie der päpst-
liche Zeremonienmeister Biagio da Cesena, den Michelangelo - eine echte
Künstlerrache ausübend - noch gerade Zeit fand, in der Hölle abzukonterfeien3.
Auch der offene Brief des bizarren Literaten und Schauspielers Andrea Calmo
an Michelangelo, der im Jahre 15 5 2 in Venedig veröffentlicht wurde, ist so abge-
faßt, daß man nicht weiß, wo die Bewunderung aufhört und wo der Spott be-
1 Gaye, Carteggio II, p. 500.
2 Die auf Michelangelo bezügliche Stelle in Biondos Buch ist wieder abgedruckt bei Steinmann-Wittkower,
P- 33/34-
3 Vasari VII, p. 211. Vgl. Domenichi, Detti e fatti di diversi signori e persone private etc. Fiorenza 1562, p. 242
(Neuausgabe a cura di Giovanni Fabris. Roma 1923, p. 169).

48
 
Annotationen