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Kriegstagung für Denkmalpflege [Editor]
Stenographischer Bericht — Berlin, 1915

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Sonnabend, den 28. August
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https://doi.org/10.11588/diglit.29910#0037
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detruite n’est qu’un arnas de decombres.“ Hunderttausend Blätter in der
ganzen Welt haben in den nächsten Tagen dies wiederholt, haben über diesen
acte revoltant du vandalisme gezetert — und der ganze Akt dieser Anklage
beruht schon in der ersten Verkündigung nicht nur auf einem Mißverständnis
und einer leichtfertigen Übertreibung, in allen folgenden auf einer bewußten
und bewußt aufrecht erhaltenen offenkundigen Unwahrheit. Bin wirk-
liches vernichtendes Unheil war für die Kathedrale der große Brand am
24. Juli 1481 gewesen, der die gesamten Dächer und die Türme, vor allem
auch die Aufbauten der Flankierungstürme an den Kreuzarmen und den
großen zentralen Turm über der Vierung zerstörte, so daß nach diesem
Debäcle der Mittelturm kassiert, jene Seitentürme bis auf die Querschiff-
höhe abgetragen werden mußten. Wenn auch die schöne Rekonstruktion
von Viollet-le-Duc etwas zuviel der Spitzen gibt, den ganz verschwundenen
Vierungsturm zu hoch entwickelt, so erhob sich damals doch ein völlig anderes
Bauwerk über der Königsstadt an der Vesle. Seitdem hat die Kathedrale
nur noch zwei große Unglücksperioden zu verzeichnen, die Zeit der Er-
neuerungen und der Reinigung des Innern, im 18. Jahrhundert, die zuletzt
auch das berühmte Labyrinth beseitigte, — und die moderne Restauration
der siebziger und achtziger Jahre im. 19. Jahrhundert.

Man vergleiche die Aufnahmen der Kathedrale vor dem 19. September
und nach ihm. Aber der Bau steht ja noch? — haben die in den nächsten
Wochen hingeführten amerikanischen und italienischen Journalisten ganz
naiv gefragt. Ja, das war die Überraschung, nachdem sich die Rauchwolken
über dem Dom verzogen hatten —, und die französische Welt hat sich alle
Mühe geben müssen, die verleumdete Kathedrale nun weiter in den Rauch
ihrer hochtönenden Phrasen einzuhüllen, um die einmal geschaffene Legende
aufrecht zu erhalten. Wie sagt euer alter Corneille? II faut bonne memoire,
apres qu’on a menti. Wir lassen gern den Akademien und den sich ent-
rüstenden gelehrten Gesellschaften die Entschuldigung der bona fkles.
Aber der Vorwurf der mala fkles bleibt auf den verantwortlichen Vätern
jener Psychose ruhen, die nun die halbe Welt ergriffen hat. Ein politisches

Agitationsmittel ist euch eure Kathedrale geworden-und die allzu

laute Fanfare hat den aus dem Herzen kommenden Schmerzensruf der
echten Kunstfreunde übertönt.

Jene „vollständig zerstörte Kathedrale“ besteht heute noch in ihrer
ganzen baulichen Substanz. Die Dächer sind abgebrannt, aber die Gewölbe
haben gehalten, an dem einen Turm ist durch jenen ersten Mörserschuß
die äußerste und oberste Ecke der Verstrebung weggeholt, aber es steht das
gesamte Strebegerüst, es stehen die beiden Giebel, es steht die (erst durch
die jüngste Restauration neu geschaffene) durchbrochene Balustrade, die
den ganzen Obergaden umgibt. Was der Dachbrand zerstört hat, das geht
nicht über das Maß dessen hinaus, was ein jeder Dachbrand vernichtet,
zumal wenn alles und jedes Eingreifen der Feuerwehr fehlt. Außer den
gelegentlichen Verletzungen erstrecken sich nach den vorliegenden fran-
zösischen, englischen und italienischen Berichten die Verletzungen vor
allem eben auf den Nordwestturm und jenes unter dem Gerüst verborgene
südliche Seitenportal der Westfront. Das Feuer ist hier auch in das Innere
hineingeschlagen, hat hier auf dem Stroh, das für das Lagern für Verwundete
in der ganzen Kathedrale ausgebreitet war, weiterlaufen können und hat, so
 
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