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Kriegstagung für Denkmalpflege [Hrsg.]
Stenographischer Bericht — Berlin, 1915

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Sonnabend, den 28. August
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https://doi.org/10.11588/diglit.29910#0038
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vor allem auch im Innern die entzückenden Skulpturen, die sich hier an
diesem Teil der inneren Westfront hinzogen, ausgeglüht. So weit an der
Front nicht schon das zusammenbrechende Gerüst, das Herunterstürzen
der in die Brüstungen eingeschobenen schweren Balken, die jetzt bei ihrem
Herauswuchten die betreffenden Teile der dekorativen Architektur mit-
nehmen mußten, den Skulpturen Verletzungen zufügen konnten, sind die
Schäden an den Figuren durch einen einfachen chemischen Prozeß ent-
standen. Der Kalkstein ist durch die enorme Hitze ausgeglüht. Die Epi-
dermis des Steins ist vielfach in großen schalenartigen Flächen herabgefallen.
Vier der großen Figuren haben die Köpfe verloren, von anderen ist ein Teil
der Vorderseite abgeblättert. Vor allem auch die kleinen Figürchen in den
Gewänden und im Giebel haben schwer gelitten, am stärksten doch wohl
die Skulpturen der Innenseite. Wem wären diese entzückenden feinbewegten
Gestalten nicht an das Herz gewachsen gewesen ? Es sind vielfach nur noch
Torsen von ihnen übrig geblieben, aber auch aus diesen Torsen spricht, wie
aus den Parthenonskulpturen, noch die unvergängliche alte Schönheit.

Wer möchte es wagen, diese Figuren zu restaurieren und zu ergänzen ?
Unserem Geschlecht heute erscheint es als eine ähnliche Unmöglichkeit
und als ein ähnliches Sakrileg, wie wenn ein moderner Künstler die Eigin
Marbles ergänzen würde, was freilich Thorwaldsen noch bei den Ägineten
gewagt hat. Man könnte erwidern, daß von jenen Beimser Skulpturen
doch schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein guter Teil erneut
ward, daß Viollet-le-Duc in Paris und Boeswilhvald in Laon fast den ganzen
plastischen Schmuck erneuert oder frei neu geschaffen haben, und daß das,
was heute die französische Nation dort bewundert, eben Schöpfungen des
19. Jahrhunderts sind. Die Franzosen haben sich hierüber schon geeinigt:
„Die Skulpturen werden unergänzt bleiben, geköpft und verstümmelt, und
neben ihnen auf einer ehernen Platte wird man zur ewigen Schande für
Deutschland die Ursache ihres Martyriums mit dem Datum des Verbrechens
und den Namen ihrer Urheber anbringen.“ Und daß die Skulpturen gerade
dieses Nordwestportals übrigens auch vor jenem Unglück keineswegs intakt
waren, daß sie von allen Figuren der Front fast am meisten gelitten hatten,
das bezeugen die großen prachtvollen, nach den Klischees der Bibliothek
Doucet angefertigten Aufnahmen in der eben begonnenen Publikation von
Paul Vitry.

Das ist die Beschädigung der Kathedrale von Reims. Die übrigen
Portale, vor allem das Mittelportal mit dem kunstgeschichtlich so unver-
gleichlich wertvolleren Skulpturen, wie der ganze steinerne Chorus, der die
oberen Regionen der Kathedrale füllt, ist bis auf zufällige und vereinzelte
Beschädigungen intakt.

Die Franzosen liabgn uns so reichlich ihre Dokimiente in ihren allzu
wortreichen Anklagen entgegengehalten. Hier stehen nur die nüchternen
Dokumente der deutschen Feststellungen ohne jeden Kommentar. Sind die
von französischer Seite verbreiteten Photographien nicht direkt irreführend ?
Sie wollen glauben machen, daß dies der Zustand der ganzen Kathedrale
sei. Sie bringen immer nur in neuen Bildern den Zustand jener Nordwest-
ecke. Das beweist zur Genüge schon, daß eben die übrigen Aufnahmen
gegen jene französische Legende sprechen würden. Was hier an künst-
lerischen Werten zerstört ist, das empfinden wir erschüttert und mit weher
 
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