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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 58 (April 1911)
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Prokop: Versuch einer neuen Metrik
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Schönlank, Alex: Die neue Malerei: Neue Sezession
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0019
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keit beherrscht sie. Hebung und Senkung wechsel»
ruhig ab, lückenlos. Dieser Fluss, dieser schematische
Jambenrhythmus wird nie unterbrochen. Beispielsweise:
lch schrieb es auf: nicht länger sei verhehlet,

Was als Qedanken ich nicht mehr verbanne.

Was ich nicht sage, Du nicht fühlst: uns fehlt
Bis an das Gliick noch eine weite Spanne.

Hier scheint das Schema, wie bei einer Horazi-
schen Ode, rein und fehlerlos durchgefiihrt. Etwa
dieses:

Vergieichen wir damit ein Goethesches Gedicht —
[Ich wähle folgendes:

P r o b 1 e m

Warum ist Alles so rätselhaft?

Hier ist das Wollen, hier ist die Kraft;

Das Wollen will, die Kraft ist bereit

Und daneben die schöne lange Zeit.

So seht doch hin, wo die gute Welt

Zusammenhält!

Seht hin, wo sie auseinanderfällt!]

— so stehn wir scheinbar der völligen Anarchie gegen-
über, ja es miisste einer, der an der alten rein-akzen-
tuierenden Metrik festhält, so unartig gebauten Versen
gegeniiber in die ärgste Verlegenheit kommen und sie
zögernd in folgendes Monstrum etwa schematisieren:

und so fort, kurz ohne jede Spur eines Gesetzes. —
So hilft man sich denn, nennt derartige Verse von
Goethe Knittelverse oder vergteicht sie mit dem vers
Hbre oder erinnert an das Gesetz der mittelhoch-
deutschen Metrik, die nur die Hebungen zählte —
stellt diesem rohen Unding die glatte ausgeglichene
Moderne entgegen.

Sehr mit Unrecht.

Ich behaupte, dass die zitierten Verse Goethes
nacli viei strengeren Gesetzen gebaut sind als die von
Qeorge. — (Joethe hat intuitiv die komplizierteren
Gesetze der deutschen Sprache erkannt, während
George eine nur für romanische Sprachen (mit ihren
prägnanteren Akzenten) passende Schablone an-
wendet.

Betrachten wir das Gedicht näher: Gleich in der
ersten Zeiie steht ein Daktylus im zweiten Fuss, dem
im ersten und dritten Fuss nur Trochäen entsprechen.
Aber man sehe 'einmal von der Silbenzahl ab und
wäge das Gewicht der Versfüsse. Sofort erscheint
alles ausgeglichen, denn der Versfuss „rätsei“ verdient
natürlich schon infolge der Wichtigkeit des in ihm
Gesagten eine langsamere Aussprache als der Fuss
„Alles so“, er ist auch durch Konsonantenhäufung und
das lange ä gedehnt, er ist eine Art Spondeus, er
schlägt eben (und darin besteht ein Geheimnis schöner
Verse) aus dem Gebiet der akzentuierenden in das
der quantitativen über. Im zweiten Vers finden wir
ein Beispiel der Dehnung durch die Pause bei den
Interpunktionszeichen und so fort. — Des weitern be-
achte man, wie regelmässig die Hauptikten verteilt
sind, wie im ersten Vers die erste und vierte Betonung
neben den beiden mittleren verschwinden, ähnlich im
vierten Vers, wie dagegen in den beiden umschlossenen
Versen (2 und 3) alle vier Ikten etwa den gleichen
Wert haben, wie sich hier zarte Differenzen bilden,
deren graphische Darstellung eines komplizierten
Systems bedürfte.

Um es kurz zu sagen: dadurch dass Goethe in
diesen Versen die Silbenzahl ganz vernachlässigt, be-
freien sich alle guten Geister der Sprache aus
ihren Fesseln. Jedes Wort kann nur in der ihm
natüriich zukommenden Würdigkeit ausgesprochen
werden. Der Rhythmus kann dem Wort gleichsam
nichts helfen. Nur was das Wort vermöge seines
eigentümlichen Klanges und Sinnes in sich hat, kann
im Vers zur Geltung kommen. — Es ist also grund-
falsch, hier vori freien oder prosaisch klingenden
Versen zu sprechen. Im Gegenteil, diese Verse sind
gebundener als alle andern Verse, denn sie müssen
ihren Rhythmus nicht einer vorbestimmten Schablone,
sondern den immanenten Kräften der Sprache ent-
nehmen.

Kehren wir nun nochmals zur obigen Strophe von
George zurück. Man kann diese Worte als Jamben

auffassen Aber nur wenn man sich von vornherein
vornimmt, dass da Jamben herauskommen müssen!
Der aufgezwungene Rhythmus besiegt den Geist der
Sprache, tötet ihn. Denn niemand wird doch leugnen
wollen, dass die hier vorkommenden Jamben sehr un-
gleichwertig sind. Dass beispielsweise in der zweiten
Zeile die einsilbigen Worte wie „als“ oder „ich“ oder
„mehr“ nur widerwillig den Hochton annehmen, dass
also diese zweite Zeile eigentlich (trotz der schein-
baren Strenge) statt fünf Hebungen nur zwei Hebungen
hat. Das richtiggestellte Schema hätte zu lauten:

Und wie wenig sind hier die Längen neben dem Ak-
zent beachtet, wie wenig der Rhythmus der Inter-
punktion. Man sieht, nun hat sich die Georgesche
Strophe in ein formloses Ungeheuer verwandelt,
während Goethes Metrum seine klaren Gesetze wandelt.

*

Um gleich einem Missverständnis die Spitze abzu-
kneifen: durch das Vorige will ich George nicht ver-
kleinern. Im Gegenteil, ich liebe und bewundere ihn ...

Nur die will ich treffen, die seine Verse für
reiner halten als die Verse von Dauthendey beispiels-
weise. Diejenigen, die in dem scheinbar exakten
Wec’nscl von Arsis und Thesis mehr sehn als ein un-
gefähres Vorbeischaukeln, etwa eine wirkliche Strenge
und Exaktheit. — Mir selbst gefällt ja das Vorbei-
schaukeln Georgescher Verse, nur darf ntan es nicht
für einen Parademarsch halten.

Und darf daneben die viel exaktere sprachgemässere
Regelmässigkeit in den scheinbar unregelmässigen Versen
von Dauthendey, Mombert, Else Lasker-Schüler nicht
vergessen. Man wird, wenn man dies einsieht, endlich
vielleicht auch aufhören, den Rhythmus in meinem
letzten Buche („Tagebuch in Versen“) pedantisch mit
Ziffern statt mit dem Ohr zu messen und wird sich
an dent nächstens erscheinenden Versbuch von Franz
Werfel „Der Weltfreund“, das in dieser Richtung
weitergeht und mir als eines der schönsten Ereignisse
lyrischer Welt in unsern Tagen erscheint, mit freudigem
Herzen laben

Die neue Malerei

Neue Sezession

Die Stärke des Impressionismus hing nicht nur
aufs engste mit dem Motiv der Landschaft zusammen,
sondern seine Aesthetik betonte imrner wieder, dass
seine Wurzeln im Gegensatz zu allen Konventionen
in dem unmittelbaren Verhältnis zur Natur lägen, in
seiner Naturnähe; und dem Eindruck der Natur nahe
zu kommen, ist die Aufgabe und das Ziel dieser
Malerei. Die Natur war unmittelbare Kunst, sobald
man sie unter Abstraktion auf die malerischen Mittel
darstellte. Hatte man einmal das Motiv gefunden, so
beschränkte sich die Geistestätigkeit auf eine Kompo-
sition der Farben. Alles andere überliess man dem
Zufall. Es wäre banal, diesen Verismus Naturabklatsch
zu nennen und ihn mit der Photographie zu vergleichen.
Aber einmal aufmerksam geworden durch einen auto-
ritativen Satz: „die Natur ist eine Gans, man muss
erst etwas aus ihr machen“ wird man auch in diesem
Glaubenssatz des Impressionismus nur eine relative,
zugespitzte Formulierung ad hoc erkennen, deren All-
gerneingiltigkeit leicht zu erschüttern ist, wenn man
das Verhältnis der Natur zur bildenden Kunst uster-
sucht Leopold Ziegler hat in einem inhaltsreichen
Aufsatz des Logos die Kluft zwischen beiden mit
höchster Schärfe analysiert. Er leugnet jede Wirkungs-
gemeinschaft im Gefühl oder in der Stimmung. Die
Natur nehmen wir mit allen unseren Sinnesorganen
als Zuständlichkeit wahr, der Zusammenklang aller
Sinneswahrnehmungen erweckt die Pan-Stimmung. Oder
wir legen menschliche Gefühle in sie hinein und sehen
in ihr ein Gieichnis unserer Seele. „Wegen dieser
zweifachen Ursache ist die Stimmung sowohl unmale-
risch, nämlich dichterisch oder musikalisch, als auch
aussermalerisch, das heisst auf anderen als optischräum-
lichen Eindrücken beruhend.“ Wir empfinden die Natur
in ihrem ewigen Wechsel ais „Analogie eines Werkes

der Zeitkünste . . . darum ist man gerade soweit
Bildner, — als man an die Stelle des verharrenden
Zustandes den beharrlichen Gegenstand setzen kann,
den man künstlich herstellt, da ihn weder Natur noch
Erfahrung darbieten.“ Ebensowenig wie die Gemein-
schaft der Stimmung könne man die gegenständliche
Uebereinstimmung behaupten. Denn das Werk der bild-
nerischen Gestaltung entstand aus der Natur durch eine
Anzahl obstruktiver Tätigkeiten, die den Gegenstand auf
irgend eine Weise verändern mussten, um aus der Natur
Kunst zu machen“.

Natürlich kann keine noch so scharfsinnige aesthe-
tische Formulierung den Wert einer Kunst nichtig
machen. Ich richte mich auch nicht gegen die Meister-
werke der Impressionisten, die wie jede Kunst jenseits
aller Welturteiie stehen, sondern gegen das ästhetische
Dogma. Zwischen Natur und schöpferischer Kraft
können die vielfältigsten Beziehungen neben der ge-
predigten sklavischen Anklammerüng bestehen. In
früheren Epochen konzipierte man aus dem einzelnen
Gegenstand mit Abstraktion aufs Lineare. Der Im-
pressionismus verzichtete darauf, weil er das Objekt
in Relation zu Luft und Licht darstellen wollte. Wa-
rum sollte es nicht auch noch jenseits dieser Möglich-
keit neue Formen geben? Bei den Künstlern der
Neuen Szession ist nun die Empfindung das die
Konzeption bedingende Element, so dass nicht mehr
die Naturnähe sondern der Empfindungsausdruck das
Ziel ihrer Arbeit wird Man denke dabei nicht an das
Sentiment irgend welcher Künstler, das sich gewöhn-
lich vor der Anschauung einsteilt, sie durchkreuzt und
nicht zur Reife kommen lässt. Erst was die sichtbare
Erscheinungswelt an Empfindungen im Künsiler aus-
löst, wird in einer farbigen Komposition zu gestalten
gesucht, so dass die Natur wieder herausspringt, aber
nicht als Erscheinungswert, als gesteigerte und geklärte
Anschauung, als eine im Bildausschnitt zufällige Natur-
psychologie, sondern unter völliger Vernichtung der
Gegenstandsbedeutung als geschlossenes Bild ihres
Wesens, ihres Charakters im Medium dieses Künstlers,
als konzentrierter, abstrahierter Ausdruck

„Es gibt zwei Arten, die Dinge auszudrücken“, sagt
Matisse, „die eine ist, si^-brutal zu zeigen, die andere
sie mit Kunst hervorzurufen. Indem man sich vnn
der buchstäblichen Darstellung der Bewegung
gelangt man zu mehr Schönheit und Grösse.
ist mir nicht möglich, die Natur sklavisch abzubilden;
ich bin gezwungen, sie zu interpretieren und dem Geist
des Bildes unterzuordnen. Wenn alle meine Be-
ziehungen der Farbentöne gefunden sind, so muss sich
daraus ein lebendiger Akkord von Farben ergeben,
eine Harmonie analog einer musikalischen Kompo-
sition“.

Wollte man den künstlerischen Schaffensprozess
und die Stellung der Natur beider Richtungen in eine
kurz formulierte, zugespitzte Antithese bringen, so könnte
man sagen: Bei dem Impressionisten herrscht unper-
sönliche Hingabe und persönliche Wiedergabe, bei den
jungen Stilisten persönliche Hingabe und unpersönliche
Wiedergabe. Maurice Denis, der nur bedingt,
unter genügender Abstraktion in diese Gruppe gehört,
schreibt:

„Vom Standpunkt der Subjektivität haben wir den
Gedanken: die Natur durch ein Teruferament gesehen,
ersetzt durch die Theorie des Aequivalents oder des
Symbols: wir steliten das Gesetz auf, dass die Em-
pfindungen oder Seelenzustände, die durch einen be-
stimmten Vorgang hervorgerufen werden, dem Künsler
Zeichen oder plastische Aequivalente vermitteln, durch
die er imstande ist, diese Empfindungen oder Seelen-
zustände zu reproduzieren, ohne dass es notwendig
sei, eine Kopie des eigentlichen Schauspiels zu geben;
dass mit jedem Stadium unserer Empfindungen eine
objektive Harmonie korrespondieren müsse, die es
ermöglicht, sie zu übersetzen. Die Kunst ist nunmehr
nicht eine Sensation, die wir mit den Augen in uns
aufnehmen . . ., nein sie ist die Schöpfung unseres
Geistes, zu der die Natur nur die zufällige Gelegen-
heit gegeben hat. Statt mit den Augen zu arbeiten,
erfassen wir mit dem geheimnisvollen Zentrum des Ge-
dankens, wie Gauguin sagte . . . und die Kunst wurde
die subjektive Umwandlung der Natur.

Vom objektiven Standpunkt aus wurde die deko-
rative, ästhetische und rationelle Komposition auf
weiche die Impressionisten nichts geben, weil sie sich
ihrer Vorliebe für die Improvisation entgegenstellte, der
notwendige Milderungston für die Theorie der Aequi-
valente. Wie diese zugunsten des Ausdruckes alle selbst
karikaturalen Uebersetzungen, alle Uebertreibungen des
Charakters zuliess, so verpflichtet die objektive Um-

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