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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 142/143
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Ehrenstein, Albert: Wanderers Lied
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Ehrenstein, Albert: Im Lande der Erotophilen
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Ehrenstein, Albert: Arbeitsteilung
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0247
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Wanderers Lied
Meine Freunde sind schwank wie Rohr,
auf ihren Lippen sitzt ihr Herz,
Keuschheit kennen sie nicht,
tanzen möchte ich auf ihren Häuptern.
Mädchen, das ich liebe,
Seele der Seelen du,
auserwählte, lichtgeschaffene,
nie sahst du mich an,
dein. Schoß war nicht bereit,
Asche liegt auf meinem Herzen.
Ich kenne die Zähne der Hunde,
in der Wind-ins-Gesicht-gasse wohne ich,
ein Sieb-dach ist über meinem Haupte,
Schimmel freut sich an den Wänden,
gute Ritzen sind für den Regen da.
,.Töte dich“, spricht mein Messer zu mir;
im Kote krieche ich,
hoch über mir, in Karossen befahren
meine Feinde den Mondregenbogen.
Albert Ehrenstein

Im Lande der
Erotophilen
Von Albert Ehrenstein
Im Lande der Erotophilen fehlt es den Damen
nicht an Gemüt, da sie die Wonnen, die auf die
Fortpflanzung gesetzt sind, an zwei Orten re-
gistrieren können. Sind aber Weibchen gleich-
zeitig zwei Befriedigungsmöglichkeiten geboten,
verharren sie auch zumindest um die Hälfte treuer
als die natürlicherweise unersättlichen, weil in
demselben Zeitabschnitte bloß auf eine einzige
Gefühlsquelle angewiesenen Frauen der übrigen
Menschen.
Nichts ist denn auch ergötzlicher oder an-
mutiger, als wie sie den zwei Männchen, die an
ihnen beschäftigt sind, zu gleicher Zeit Treue
schwören und auch halten. Schon aus Ordnungs-
liebe nämlich würde es keine von ihnen über das
Herz bringen, dem einen dort Eintritt zu ge-
währen, wo bereits das andere einmal sich auf-
hielt. Und unterscheiden sie sich durch diese un-
schuldige Pedanterie sehr vorteilhaft von den-
jenigen Tieren, bei denen die Zitzen nicht behörd-
lich numeriert sind, noch jedem Jungen eine be-
stimmte angewiesen ist.
* * *
In vielen Städten dieses Landes hat die Polizei
Mitleid, und man kann die Weihnachten im Bor-
dell verbringen. In anderen Niederlassungen wie-
der gibt es zwar leibselige Fräuleinware, hingegen
nur Einzelmasseusen, die höchstens tagsüber in
den Warenhäusern massiert sind . . .
* * *
Wie Erotik überhaupt ist natürlich alle Weib-
lichkeit von der Politik ausgeschlossen. Und
zwar, wie einige aussagen, weil die Häupter der
angeblich oppositionellen Parteien der Regierung
die dieser aus den Bewohnerinnen der öffentlichen
Häuser und mehr sekreten Frauenklöster notwen-
dig erwachsen müssenden Stimmen mißgönnen —

tischerweise Miguel . . ., den hab ich ganz gern und
andererseits die allen gemeinsamen Mädchen, nicht
so selbstlos wie die Eisenbahnen, sich heftig da-
gegen sträuben, für die Gewährung des Wahl-
rechtes durch den Staatsbeamten zuzubilligende
Ermäßigungen sich dankbar zu erweisen.
Trotzdem, ist die Männerherrschaft nur eine
scheinbare. Die Hochzeit wird während der
ersten Begattung geschlossen. Aber ein Mann ist
ja nie geneigter und schmiedsamer zu einer ihm
so unmöglichen Sache wie es eine dauernde Ver-
bindung ist, als bei jener freudenerregenden Amts-
handlung. Den Jungfrauen wird es daher klüglich
von der Sitte vorgeschrieben, im Augenblicke der
Uebermannung halb belustigt, halb wehmütig-ent-
rüstet: „Na, sowas!“ zu rufen, gleichgültig ob
das ..Sowas“ durchaus erfreulicher Natur ist oder
nicht. Auch noch in den ersten Jahren der Ehe
jauchzen diese Weiber während des Aktes gleich
den Hereromädchen: „Ai di eluzi, da titta, tittä!“
Später jammern sie wie die östlichen Jüdinnen:
„Oi weh, wie wird mir!“ Bis schließlich die un-
erträgliche Ehe von ihnen geschieden wird mit
den zeremoniellen Worten: „So a angschissener
Beutel!“

Arbeitsteilung
Von Albert Ehrenstein (1905)
Ah! Man gratuliere mir. Es hat mir nämlich
einer eine Geschichte erzählt, erspar ich, eine zu
flunkern. Mein würdiger Freund Doktor Michael
Scheibenstoß, zwischen manchen Gläsern Reben-
saftes, mundwerkte folgendes: „Es war einmal
ein Mädchen, und der dazugehörige junge Mann
war ich ... bei einem feschen Mädel bin ich
immer dabei. Also, Vorname: Zizi, sechzehn
Faust hoch, Taillenweite: dreißig Zentimeter,
Handschuhnummer fünf, Füßchenlänge zwanzig
Zentimeter, mikrokephal . . . Ihre Seele brauche
ich also nicht weiter auseinanderzunehmen, dir
genügt, daß sie folgender Sorte angehört: im Bou-
doir Engelhornband aufgeschlagen, beim ersten
Kuß die eingelernte Entrüstung nebst Ohrfeige,
beim zweiten „Nicht doch!“, bei dritten „Hast du
mich wirklich lieb?“, beim vierten „Bin ich
schön?“, beim fünften — schon in meiner Woh-
nung und unter echt weiblicher Hingabe nicht nur
in das Schicksal, sondern auch in das Unvermeid-
liche: „Das ist gut!“
So hätt ich’s machen können, aber ich habe
einmal eine Neigung für das Extravagante, kom-
pliziere mir meine Fälle immer selber, finde, ein
anständiger Mensch darf einem Mädchen nie in
seiner Junggesellenwohnung oder gar in solchem
Hotel, einzig und allein in ihrem eignen Mädchen-
bett darf er ihr beiwachen . . . Ergo küßte ich nicht,
sondern anknüpfend an den Engelhornband — es
war einer mit verschämtem Augenaufschlag —
knüpfte ich ein literarisches Gespräch an, das
heißt, ich fragte sie natürlich, ob sie schon das
Dekamerone Messer Giovanni Boccaccios gelesen
habe. Merke dir: einem Mädel gegenüber sagt
man immer „Messer Giovanni Boccaccio“. Wenn
du bloß „Boccaccio“ sagst, hast du verloren, sie
wird sich nicht einmal die Mühe tun, rot zu wer-
den, hierauf „mein Herr“ sagen und dich die Tür
von draußen bewundern lassen; sagst d!u noch
Giovanni Boccaccio, wird sie zweifelsohne vom
Radium zu reden anfangen, wenn du aber „Messer
Giovanni Boccaccio“ sagst, wird sie sich höchstens
zu erröten getrauen. „Messer“ . . . das klingt wis-
senschaftlich. . . . Richtig errötete sie auch, was

ich ihr selbstverständlich scharf verwies. Das
Recht, zu erröten, hätten höchstens verheiratete
Frauen, bei einem jungen Mädchen sei das ein Zei-
chen von Blutarmut und mangelhafter Unschuld.
Pumpte ihr also den Bokkaz — selbstredend in der
Inselausgabe — anschließend daran die Gespräche
der frumben Aloysia Sigaea, hierauf — du wirst
die Feinheit der Aufeinanderfolge zu würdigen
wissen — die Geschichte der jungen Renate Fuchs.
Den Schluß machte ich mit den Welträtseln, nach
deren Verdauung ich so nebenbei zu ihr bemerkte
— mit einer mich den Weibern immer so empfeh-
lenden und naherückenden Unlogik —: „Es gibt kei-
nen Gott, wir Menschen dürfen also alles tun.“ So,
jetzt war sie reif zur Liebe und ich ließ sie auch
schleunigst darin maturieren . . . Ging nämlich zu
ihrer Eltern eines Nachmittags hinauf — lach’ nicht
so dumm, du rätst viel zu plump — und bat die
alten Leute, meine Lohengrinloge zu übernehmen,
ich hätte am Abend eine große und dringende Ope-
ration .... Der Zizi aber versicherte ich, sie hätte
eine kleine Angina los . . . Oh, nichts von Bedeu-
tung, aber wenn sie morgen zum Ball gehen wolle,
möge sie sich schleunigst ins Bett begeben ... die
Alten akzeptierten dankend, ich empfahl mich, und
gewissenhafter Arzt, der ich leider bin, begab ich
mich am Abend zu dem Mädel, um es noch einmal
genauer und eingehender zu untersuchen . . . Die
Eltern wollte ich nicht gleich erschrecken, aber es
konnte ja Diphtherie sein ... Na, es gab die her-
kömmlichen Präliminarien . . . Von „Ich schrei“
angefangen über „Nicht doch“ ... die ganze Ton-
leiter ward gewissenhaft abgeschnurrt . . . den Aus-
schlag gab schließlich, daß ich ja Doktor bin ....
Meine große und dringende Operation gelang —
so darf ich mir schmeicheln — aufs Vollste. Schließ-
lich bin ich ja Spezialist darin — ich arbeitete übri-
gens wie gewöhnlich ohne jegliche Assistenz —
und bei der Gründlichkeit, Sachkenntnis und Pflicht-
treue, durch die sich ja meine Operationen aus-
zeichnen, war ein Mißlingen von vornherein aus-
geschlossen. Sogar meine kleine Patientin — der
Fall ist selten in einer rein ärztlichen Karriere —
verhehlte mir ihre Zufriedenheit nicht, fand huld-
vollste Worte der Anerkennung für mich: „Mi, du
bist ein großes Schwein“ quietschte sie. „Hat mir
noch jede gesagt,“ dachte ich mir und antwortete
ihr wie den meisten: „Es ist so gut, mit dir Schwein
zu sein.“ Das Pfeifen aber von Lohengrinmötiven
verbot sie mir aufs strengste . ' . ja selbst viel spä-
ter noch, als ich sie einmal in meiner Wohnung —
nur beim erstenmal kaprizier ich mich auf das Mäd-
chenbett — aus Versehn . . . mein Gott, ein Arzt
hat soviel Patientinnen und Operaionert . . . „Elsa“
titulierte und auf eine doch wirklich höchst depla-
zierte Frage nach dem Hochzeitstermin, beim Autor
bleibend, mit: „Nie sollst du mich befragen“, aus-
kneifen wollte, da bekam sie irgend einen Wein-
krampf. Erst als ich zärtlicher und deutlicher
wurde und sie unter einigem Streicheln an meine
Auslegung Häckels erinnerte . . . es gibt keinen Gott
und also darf ich alles tun . . . und ihr zu verstehn
gab, ich sei ein sehr moderner Mensch und huldige
überaus dem Prinzip der Arbeitsteilung, liebe zwar
mit Vorliebe an Angina leidende Jungfrauen, das
Heiraten aber und Kinder kriegen überließe ich
gern andern . . . man müsse humanerweise auch
den übrigen Menschen ein so schönes Weibchen
ein Wenig zu gute kommen lassen ... ich wollte
ja recht gern, aber, mein Gott, die Prinzipien! und
dann . . . überhaupt . . . ich sei nun einmal das
Heiraten nicht gewöhnt, da erst ging ihr nach, län-
gerer Ohnmacht eine Seifenfabrik auf, deren Besit-
zer sie auch, auf meinen bald darauf erfolgenden
reinänztlichen Rat hin, pünktlich ehelichte ... Ich
weiß nicht warum, aber ihren ersten und letzten
Buben ... er heißt merkwürdiger- und roman-

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