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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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6. Heft
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Liebmann, Kurt: Offeriere freibleibend
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Walden, Herwarth: Beethoven, kein Wiener Klassiker
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Spaemann, Heinrich: Etüden
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0134
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Beethoven, kein Wiener Klassiker
„Denn so, wie die . Wiener Klassiker aller
Welt gehören, so im gewissen Maße auch
das. Wiener Orchester^ das vor allem diese
Klassiker klassisch spielt, nicht zuletzt darin
eine kostbare Tradition lebendig erhält.
Wirkt es doch nicht bloß auf Wiener Boden,
sondern stellt auch eine süße Frucht dieses
Bodens dar, aus dem es seine Kraft geso-
' gen.“ Mit diesem nicht unpoetischen Worten
wird die süße Frucht, das Wiener Philhar-
monische Orchester, zu seinem Berliner
Gastspiel von Herrn Dr. Julius Korngold,
Wien, eingepackt. Die Wiener Klassiker sind
auch sonst ziemlich bekannt geworden, sie
heißen Haydn, Schubert und Beethoven. Die
süße Frucht wurde von verschiedenen Her-
ren geritten:„Felix Weingartner ergriff mit
seinem jungen Musikempfinden die Zügel und
hält sie mit den Unterbrechungen fest, zu
denen ihn internationale Verpflichtungen ent-
führen.“ Warum soll man schließlich nicht
etwas mit Unterbrechungen festhalten, wenn
einen Verpflichtungen entführen. Das ist eben
die Wiener Leichtigkeit.
Erich Kleiber, der Berliner Dirigent, ließ zu-
nächst die.Zügel schießen, um das Orchester
klassisch zu machen. Eine Maschine, die alle
Töne nach Noten von sich gibt. Syrup. Ohne
Heiterkeit. Haydii, ein Chorkonzert von
Oberlehrern. Sehr seriös. Fachmusiker nen-
nen es, Stilgefühle Die alten Musikfreunde,
und Musikfreunde sind immer alt, können mit
dem Kopf im Tempo wackeln. Hierauf wird
der Tradition ein zweites Opfer gebracht und
die H-Moll-Symphonie von Schubert, über-
tragen für die Ausbildungsklassen des Kon-
servatoriums, Ausgabe für Klavier zu vier
Händen, gespielt. Diese einzige Symphonie
des zitternden, zagenden Lebens, deren
Klänge aus Wesenlosem Gewesenes zu We-
sen gestalten.
Nach der Pause entschließt sich Erich Klei-
ber zu dirigieren. Beethoven, Siebente
Symphonie. Jedenfalls ist ein aufgeklärter

Etüden
Leben und Leben lassen
Töten und Tote begraben
Landschaft
Es ist ein schöner Nachmittag das Laub ist
so voll wir haben noch Spätsommer bald
wird es welken und die Linden blühen, nicht
mehr in den Alleen liegt gelbes Laub die
Fremden sind fort Sonntags ist die Stille die
Vögel singen auch nicht sie sind tot jetzt
spielt eine Zither im Garten er liegt in einem
alten Schloß auf drei Seiten sind Gebäude
nach Süden schließt eine Mauer unten liegt
der See der Abhang ist steil und hoch die
Segel sehen aus wie Fontänen die Gebäude
haben eine rote Farbe die Fenster sind mit

Aber der Sturm läutet in der Ewigkeit. Und
aus der Hölle zerbrüllt eine Stimme die
Fratzen der glorreichen Zeit:
„Offeriere freibleibend. Rembrandt von
„ Rijn: Christus vertreibt die-Händler‘aus
dem Tempel (B. 69). Hervorragendes
Blatt-im 1. Etat M. 480.—“
Kurt Liebmann

Despot wirkungsvoller als eine unerklärbare
Tradition. Der Wiener Klassiker Beethoven
stellt doch nicht eine so süße Frucht dieses
Bodens dar, aus dem das Wiener Orchester
gesaugt: sein soll. Die Maschine Wit4^be-
• wogen, sich zu bewegen. Die Musikfreunde
werden nervös. Beethoven, unser aller Klas-
siker, wendet Tanzrhythmen an, sogar Syn-
■ kopen, von denen man glaubte, daß sie uns
erst durch diese verfluchte Jazzmusik nach
Europa gebracht seien. Beethoven bringt
Töne zusammen, die den Musikfreunden we-
nigstens nicht zusammenpassen. Wenn Beet-
hoven wirklich gespielt wird, und das tut
Kleiber, kommen die Beethovenfreunde aus
dem Musikhäuschen. Nichts mehr vor-
handen für das Eigenheim. Kein Mondschein
und kein Pathos. Beethoven richtet sich
nicht einmal nach der Theorie, die man aus
ihm erfunden hat. Auch Musik muß dressiert
werden, wenn sie lieblich im Gemüte klingen
soll. Auch Beethoven kann frisiert werden.
Die Musik Beethovens ist aber keine klas-
sische Stilübung. Sie ist Hörbarmachung und
Gestaltung unzubändigender Elemente. Ein-
fach unmittelbares Leben. - Unmittelbar ein-
faches Leben. Das Orchester braucht die
Zügel, um für das Ungezügelte freigemacht
zu werden. Es muß aus seiner Bahn ge-
rissen werden, auf der es im Kreise tänzelt,
'da es nicht tanzen kann. Kleiber hat die
künstlerische Tat getan, die Musik Beet-
hovens vom Musikalischen zu befreien.
Her warth Walden

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