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Thode, Henry; Michelangelo; Michelangelo [Mitarb.]
Michelangelo: kritische Untersuchungen über seine Werke; als Anhang zu dem Werke Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 2) — Berlin: Grote, 1908

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Das Jüngste Gericht

hat, indem er ihm Krallen und Fledermausohren gab. Hat er an
den Calcabrin Belcaris gedacht und Diesen an Stelle des Dante-
schen Charon gesetzt? So scheint es, denn die Abweichung von
Dante ist zu auffallend, als dass hier nicht eine bestimmte Absicht
vorläge. Ob Minos die Porträtzüge des Zeremonienmeisters Biagio
trägt, scheint mir, wie Kallab, sehr zweifelhaft. Bezüglich des an-
geblichen Ugolino rechts in der Ecke habe ich meine Meinung
schon oben geäussert.
Unter den Auferstehenden ist es nur eine Figur, die eine
Deutung herausfordert, da es sich sonst um Namenlose handelt:
der gewandete ältere Mann, der — kein Auferstehender — sich
sprechend an einen eben erwachenden, in Leichentüchern Gehüllten
richtet. Steinmanns Annahme, es sei Virgil, der sich zu Dante
wende, habe ich schon zurückgewiesen. Ich bin der Meinung
Kallabs, dass Hesekiel dargestellt ist, auf dessen Vision schon
Condivi die Konzeption der ganzen Szene zurückführt. Wollte man
dem Erwachenden einen Namen geben, was mir aber nicht geboten
erscheint, so könnte es nur der Daniels sein, von dem es heisst:
„Du aber, Daniel, gehe hin, bis das Ende komme; und ruhe, dass
du aufstehest in deinem Theil am Ende der Tage" (Dan. 12, 2).
VI
Die Urtheile über das Jüngste Gericht
Noch während seiner Thätigkeit an dem Gemälde vernahm
Michelangelo die ersten sein Werk verurtheilenden Worte. Der
Zeremonienmeister Biagio da Cesena sprach jene Bedenken gegen
die Nacktheit der Figuren aus, welche später unter Paul IV. und
Pius V. die Übermalung durch Daniele da Volterra und Girolamo
da Fano veranlassen sollten. Sie werden von Vielen getheilt
worden sein nach Enthüllung des Freskos, so gross das allgemeine
Staunen und die glühende Bewunderung der Künstler und Kenner
war, und Pietro Aretino schreibt 1545 jenen infamen Brief, in dem
er, seiner Wuth über erbetene und nicht erhaltene Geschenke
freien Lauf lassend, dem Meister selbst gegenüber in seiner schwül-
stigen Weise frech sich zum Anwalt jener Meinung macht.
„Mein Herr!"
„Erst beim Anblick der Gesamtskizze Eueres Jüngsten Ge-
richtes sind mir die Augen aufgegangen für die erlauchte An-
muth, die Raphael in der wohlgefälligen Schönheit seiner Erfindung
zu eigen ist. Als ein christlich Getaufter schäme ich mich der
unerlaubten Freiheit, die sich Euer Geist beim Ausdruck der
Ideen von jener letzten Entscheidung, nach welcher unser wahr-
 
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