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Einleitung.
freie Reinmenschliche zu finden ist. Göttliches in menschlicher Er-
scheinung heißt: Menschliches zu seinem Ideale gesteigert, über das
Individuelle zum Typischen erhoben, in seiner Verhältnissmäßigkeit,
d. h. Schönheit, erfaßt. Künstlerische Verherrlichung des Mythus
bedeutet demnach plastische Schönheitsgestaltung des Reinmensch-
lichen. Der schöne Mensch ist der mythische Mensch, und zu
einem mythischen, göttlichen Menschen wird in der großen Zeit
hellenischer Kunst aus Schönheitsbedürfniss auch der wirkliche
Mensch gestempelt: dem Sieger in den Agonen, wie anderen be-
wunderten Persönlichkeiten, wurden, mit Umgehung der Porträt-
ähnlichkeit, typische Züge verliehen. Mit immer neuem Staunen
blickt man zu diesen Höhen hinauf, auf denen als Urbilder aller
Mannigfaltigkeit menschlicher Individualitäten die Olympier in Äther-
reinheit wandeln, und bewundernd wird man bei der Betrachtung
der Einzelnen inne, auf wie wenige Formen jene Mannigfaltigkeit
in ihnen zurückgeführt worden ist. Die Hauptzüge, nach denen
das Menschliche in Typen unterschieden wird, sind, vom Geschlecht
abgesehen, nur die des Alters und allgemeinen Charakters. Jede
nähere Kennzeichnung besonderer psychischer Eigenthümlichkeiten
wird als ein Sichverlieren aus dem Allgemeinen in das Individuelle,
als eine Trübung des Reinmenschlichen vermieden. Sie verbietet
sich von selbst, als unverträglich mit der reinen plastischen Schön-
heitsverherrlichung des Leibes, mit der Gesetzmäßigkeit der Er-
scheinung.
Hiermit aber hängt ein Anderes zusammen: das dem Körper-
lichen entnommene Gesetz des Maaßes, wie es für das geistige
Leben bestimmend ward, gebietet auch für dessen Ausdruck in dem
Antlitz der Statue die Beschränkung zugleich auf das Typische
und das Verharrende. Nur Grundstimmungen des Wesens, nicht
augenblickliche, spezifische seelische Regungen, dürfen erscheinen.
Auch die Individualisirung im geistigen Ausdruck würde einer-
seits den Eindruck des Reinmenschlichen und andererseits den Ein-
klang zwischen Körper und Geist aufheben. Dem Geistigen ein
Übergewicht zuerkennen, hieße den Rechten des Leibes zu nahe
treten. In der körperbildenden Kunst war dies ausgeschlossen; in
ihr wahrte das Sinnliche seine vorherrschende Bedeutung in dem
Grade, daß, unter Verzicht auf Mienenspiel und damit auf eine
besondere Auszeichnung des Hauptes, vornehmlich in Form und
Bewegung des gesamten Körpers Ausdruck des Wesens gegeben
Einleitung.
freie Reinmenschliche zu finden ist. Göttliches in menschlicher Er-
scheinung heißt: Menschliches zu seinem Ideale gesteigert, über das
Individuelle zum Typischen erhoben, in seiner Verhältnissmäßigkeit,
d. h. Schönheit, erfaßt. Künstlerische Verherrlichung des Mythus
bedeutet demnach plastische Schönheitsgestaltung des Reinmensch-
lichen. Der schöne Mensch ist der mythische Mensch, und zu
einem mythischen, göttlichen Menschen wird in der großen Zeit
hellenischer Kunst aus Schönheitsbedürfniss auch der wirkliche
Mensch gestempelt: dem Sieger in den Agonen, wie anderen be-
wunderten Persönlichkeiten, wurden, mit Umgehung der Porträt-
ähnlichkeit, typische Züge verliehen. Mit immer neuem Staunen
blickt man zu diesen Höhen hinauf, auf denen als Urbilder aller
Mannigfaltigkeit menschlicher Individualitäten die Olympier in Äther-
reinheit wandeln, und bewundernd wird man bei der Betrachtung
der Einzelnen inne, auf wie wenige Formen jene Mannigfaltigkeit
in ihnen zurückgeführt worden ist. Die Hauptzüge, nach denen
das Menschliche in Typen unterschieden wird, sind, vom Geschlecht
abgesehen, nur die des Alters und allgemeinen Charakters. Jede
nähere Kennzeichnung besonderer psychischer Eigenthümlichkeiten
wird als ein Sichverlieren aus dem Allgemeinen in das Individuelle,
als eine Trübung des Reinmenschlichen vermieden. Sie verbietet
sich von selbst, als unverträglich mit der reinen plastischen Schön-
heitsverherrlichung des Leibes, mit der Gesetzmäßigkeit der Er-
scheinung.
Hiermit aber hängt ein Anderes zusammen: das dem Körper-
lichen entnommene Gesetz des Maaßes, wie es für das geistige
Leben bestimmend ward, gebietet auch für dessen Ausdruck in dem
Antlitz der Statue die Beschränkung zugleich auf das Typische
und das Verharrende. Nur Grundstimmungen des Wesens, nicht
augenblickliche, spezifische seelische Regungen, dürfen erscheinen.
Auch die Individualisirung im geistigen Ausdruck würde einer-
seits den Eindruck des Reinmenschlichen und andererseits den Ein-
klang zwischen Körper und Geist aufheben. Dem Geistigen ein
Übergewicht zuerkennen, hieße den Rechten des Leibes zu nahe
treten. In der körperbildenden Kunst war dies ausgeschlossen; in
ihr wahrte das Sinnliche seine vorherrschende Bedeutung in dem
Grade, daß, unter Verzicht auf Mienenspiel und damit auf eine
besondere Auszeichnung des Hauptes, vornehmlich in Form und
Bewegung des gesamten Körpers Ausdruck des Wesens gegeben