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Thode, Henry; Thode, Henry [Hrsg.]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0032
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8

Einleitung.

Die eine Seite dieser Gesetzmäßigkeit, nämlich die unzwei-
deutige Bestimmung des Gegenständlichen und seiner Auffassung
durch die religiöse Weltanschauung, ward uns eben bekannt, die
andere ist die der rein formalen Prinzipien, welche jene Schön-
heitsvorstellung verwirklichen. Ist dieses Problem der Form die Ge-
staltung eines einheitlichen deutlichen Sinneseindruckes, so bezieht
sie sich in der Plastik auf den Organismus des menschlichen Leibes.
In dreierlei Weise kann und muß die Einheit sich geltend machen :
allgemein im Räumlichen, denn der Leib ist ein Körperliches, im
Besonderen in der Verhältnissmäßigkeit der Theile, denn er ist ein
Gegliedertes, und in dem Zusammenhang der Bewegung, denn er
ist ein organisch Lebendiges. Alle drei Einheiten müssen sich so
durchdringen, daß nicht nur die einzelne, sondern zugleich die
Gesamteinheit empfunden wird.
Die grundlegende Raumgesetzmäßigkeit, auf eine oder mehrere
Hauptansichten der Statue bezogen, verlangt die Verdeutlichung
der Flächenbegrenzungen, insbesondere der vorderen und hinteren
Fläche jenes regulären Luftvolumens, welches gleichsam das räum-
liche Maaß der Figur bedeutet, denn nur in einem solchen regulären
Raumgebilde erfassen wir auf Grund der Tiefenvorstellung ohne
Weiteres ein räumlich Einheitliches. Nur Bewegungsmotive, welche
diese ideelle Flächenbegrenzung empfinden machen, sind zulässig, d. h.
es müssen so viele und so wesentliche Theile der Figur bis zu dieser
ideellen Fläche vortreten, daß durch diese Theile eben die Vor-
stellung einer Fläche hervorgerufen wird, wobei aber bei diesen
Adolf von Hildebrand verdankten Darlegungen zu bemerken ist, daß
es sich nicht um eine absolut mathematisch ebene Fläche, sondern
um die Wirkung einer solchen für unser Auge handelt. Verstärkt
und schärfer bestimmt wird die Auffassung des kubischen Maaßes der
Statue durch die sichtbaren regulären Maaßverhältnisse der Basis.
Von der Seite der Praxis aus betrachtet, wird der Künstler also
aus dem Block die Gestalt so heraus zu arbeiten bestrebt sein, daß
Theile der Flächen desselben stehen bleiben. Da diese Gesetz-
mäßigkeit nach ihrer Ursprünglichkeit am erkennbarsten im Relief
hervortritt, durfte sie als Reliefstil bezeichnet werden.
Die Proportionalität der Gestalt, das Größenverhältniss der
einzelnen Theile, ist im letzten Grunde auf Zahlen zurückzu-
führen. Polyklets Kanon gab zuerst bestimmte Gesetze. Es galt,
dem Willkürlichen individueller Erscheinungen gegenüber die
 
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