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Das Kruzifix in S. Spirito.

Stirn, unter deren Wölbung die Gesichtszüge klein erscheinen,
ist dem Kopfe der Eindruck dominirender geistiger Kraft ver-
liehen.
Die Proportionen des Leibes, wie die Bildung der einzelnen
Formen bezeugen das Studium nach der Natur, und zwar nach dem
Leben sowohl, als nach dem Körper eines eben Verstorbenen, aber
noch ist die Kenntniss der Muskulatur und der Bänder keine voll-
kommene: neben überraschend naturwahren Einzelheiten fallen solche
von noch ungenügender Beobachtung, namentlich an den Armen,
die hier, wie immer bei größeren Holzkruzifixen, angesetzt sind,
auf. Beeinflussung durch ältere Kunstwerke ist nur in geringem
Grade festzustellen: auf die Bildung der Beine, in Sonderheit der
spitzigen Kniee, dürfte der Bronzedavid Donatellos mit eingewirkt
haben, wie diesem Meister (das Kruzifix in S. Antonio zu Padua) auch
das Motiv des durch einen Strick gezogenen Hüftentuches entlehnt
sein mag; für die strenge stilisirende Anordnung des in Spiralen
gelockten Haares ward das in S. Spirito verehrte alte wunder-
thätige Kruzifix der Bianchi maaßgebend. Nicht in solchen Dingen
aber, sondern in der unbefangenen Naturnachbildung, in jenem
höchst eigenartigen Ideal des Antlitzes, dessen auffallende Stirn-
bildung und Bartanordnung im Christus der Pieta von S. Pietro und
in dem Londoner Gemälde der Grablegung wiederkehren, und in
dem neuen Motiv der Körperhaltung liegt das Bedeutende, Geniale
des Werkes. Mit ihm ist der cinquecentistische Typus des Ge-
kreuzigten geschaffen worden. Starke und mannigfaltige Bewegung
ist es, was Michelangelo erstrebt. Auf die gleichmäßige seitliche
Wendung des Körpers und des Kopfes nach links (im Trecento)
war im Quattrocento eine Frontstellung des Oberkörpers und der
etwas auseinandergesperrten Beine gefolgt, bei fast wagerechter An-
ordnung der Arme und geringer Loslösung des Körpers vom Kreuzes-
stamme. Im Kruzifix von S. Spirito ist zum ersten Male ein Kontra-
post versucht, indem das rechte Bein nach rechts gedreht wird und
dadurch der Gegensatz zum nach links sinkenden Haupte eintritt, und
wird die flächenhafte Gleichmäßigkeit der Erscheinung durch die
vorspringenden Bewegungen des vorwärts sinkenden Hauptes und der
stark gekrümmten Beine zu Gunsten der Tiefenwirkung aufgehoben..
Hierdurch wird zu gleicher Zeit eine reich bewegte Silhouette auch
in der Seitenansicht erreicht. Und endlich dient auch die Gegen-
sätzlichkeit in der Drapirung der beiden Enden des Hüftentuches.
 
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