Die Flucht nach Bologna.
87
dem künstlerischen Verlangen nach einer weitgehenden Differen-
zirung der Bewegungen.
Den Zeitgenossen blieb die Bedeutung des hier zum ersten
Male aufgestellten und mit bewunderungswürdiger Freiheit von einem
achtzehnjährigen Jüngling behandelten Problems nicht verborgen.
Als der Erste übernahm Mariotto Albertinelli in seinem Fresko
in der Badia das neue Motiv, und bald wurde das Kruzifix von
S. Spirito bestimmend für die Darstellung des Gekreuzigten in der
florentinischen Kunst überhaupt. —
Der Bannkreis der antiken Formenbildung war durchbrochen.
Die Holzstatue von S. Spirito ist das erste, freilich noch unvollkom-
mene Ergebniss eines Naturstudiums, das binnen wenigen Jahren zu
einer siegreichen Beherrschung aller Schwierigkeiten führen sollte, es
bereitet die von 1495 bis 1500 entstehenden Statuen vor. Ehe aber
in ihnen das Wesen des Künstlers zu freierem Ausdrucke gelangen
konnte, war es ihm bestimmt, noch in einem anderen Meister, neben
Donatello, einen geistesverwandten Vorgänger kennen und verehren
zu lernen: in Jacopo della Quercia.
Durch die Prophezeiungen Savonarolas in dunkle Erregungen
versetzt, war er kurz vor der Vertreibung Piero Medicis im Okto-
ber 1494 nach Venedig und weiter nach Bologna geflohen. Über
seinen Aufenthalt daselbst giebt uns Condivi Bericht:
„Es herrschte dort zur Zeit des Herrn Giovanni Bentivoglio
ein Gesetz, daß jeder Fremde, der in Bologna eintrat, auf den
Nagel des Daumens mit rothem Wachs sich siegeln lassen mußte.
Michelangelo, der, unbekannt hiermit, ohne Siegel hineingekommen
war, wurde mit seinen Gefährten auf das Zollamt geführt und zu
50 Bologninilire verurtheilt; während er, ohne die Mittel, sie bezahlen
zu können, auf dem Amt verweilte, sah ihn Gian Francesco Aldo-
vrandi, ein bolognesischer Edelmann, und machte ihn, von dem
Fall unterrichtet und namentlich, weil er erfuhr, daß er Bildhauer
sei, frei. Er lud ihn zu sich in sein Haus ein, aber Michelangelo
dankte ihm, sich damit entschuldigend, daß er zwei Gefährten bei
sich habe und sich weder von ihnen trennen noch mit ihrer Ge-
sellschaft Aldovrandi belästigen wolle. Worauf der Edelmann ant-
wortete : ,Wenn du die Kosten tragen willst, bin auch ich bereit, mit
dir durch die Welt zu wandern.“ Durch solche und andere Worte
überredet, entschuldigte sich Michelangelo bei seinen Getährten,
verabschiedete sie, gab ihnen das wenige Geld, was er hatte, und
87
dem künstlerischen Verlangen nach einer weitgehenden Differen-
zirung der Bewegungen.
Den Zeitgenossen blieb die Bedeutung des hier zum ersten
Male aufgestellten und mit bewunderungswürdiger Freiheit von einem
achtzehnjährigen Jüngling behandelten Problems nicht verborgen.
Als der Erste übernahm Mariotto Albertinelli in seinem Fresko
in der Badia das neue Motiv, und bald wurde das Kruzifix von
S. Spirito bestimmend für die Darstellung des Gekreuzigten in der
florentinischen Kunst überhaupt. —
Der Bannkreis der antiken Formenbildung war durchbrochen.
Die Holzstatue von S. Spirito ist das erste, freilich noch unvollkom-
mene Ergebniss eines Naturstudiums, das binnen wenigen Jahren zu
einer siegreichen Beherrschung aller Schwierigkeiten führen sollte, es
bereitet die von 1495 bis 1500 entstehenden Statuen vor. Ehe aber
in ihnen das Wesen des Künstlers zu freierem Ausdrucke gelangen
konnte, war es ihm bestimmt, noch in einem anderen Meister, neben
Donatello, einen geistesverwandten Vorgänger kennen und verehren
zu lernen: in Jacopo della Quercia.
Durch die Prophezeiungen Savonarolas in dunkle Erregungen
versetzt, war er kurz vor der Vertreibung Piero Medicis im Okto-
ber 1494 nach Venedig und weiter nach Bologna geflohen. Über
seinen Aufenthalt daselbst giebt uns Condivi Bericht:
„Es herrschte dort zur Zeit des Herrn Giovanni Bentivoglio
ein Gesetz, daß jeder Fremde, der in Bologna eintrat, auf den
Nagel des Daumens mit rothem Wachs sich siegeln lassen mußte.
Michelangelo, der, unbekannt hiermit, ohne Siegel hineingekommen
war, wurde mit seinen Gefährten auf das Zollamt geführt und zu
50 Bologninilire verurtheilt; während er, ohne die Mittel, sie bezahlen
zu können, auf dem Amt verweilte, sah ihn Gian Francesco Aldo-
vrandi, ein bolognesischer Edelmann, und machte ihn, von dem
Fall unterrichtet und namentlich, weil er erfuhr, daß er Bildhauer
sei, frei. Er lud ihn zu sich in sein Haus ein, aber Michelangelo
dankte ihm, sich damit entschuldigend, daß er zwei Gefährten bei
sich habe und sich weder von ihnen trennen noch mit ihrer Ge-
sellschaft Aldovrandi belästigen wolle. Worauf der Edelmann ant-
wortete : ,Wenn du die Kosten tragen willst, bin auch ich bereit, mit
dir durch die Welt zu wandern.“ Durch solche und andere Worte
überredet, entschuldigte sich Michelangelo bei seinen Getährten,
verabschiedete sie, gab ihnen das wenige Geld, was er hatte, und