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Lionardo und Michelangelo.

die Natur ihre verborgensten Geheimnisse, ihre Kräfte gehorchten
ihm, zu welchen Zwecken immer er sie aufrief, seine Erfindung
erstreckte sich auf alle Gebiete der Technik, seine Bildung um-
faßte alles Große der Vergangenheit und Gegenwart. Die ewige
Harmonie der Welt spiegelte sich in der Schönheit seiner Er-
scheinung und in dem Walten seines Geistes; der Born des
Lebens floß aus ihm. Sein Vollbringen zu schauen, seinen Worten
zu lauschen, strömte die Jugend zu dem Manne, der ihr als das
Fleisch und Blut gewordene Ideal der humanistischen Renaissance
galt. Sein Name war auf Aller Lippen.
Von Pier Soderini mit der Aufgabe, den David zu bilden, be-
traut, stand der 26jährige Schöpfer der Pieta dem 48 jährigen Mei-
ster des Abendmahles gegenüber: der in früher Jugend schon mit
Mißtrauen Erfüllte, durch tiefe Erregungen Erschütterte, von Leiden-
schaft Durchtobte, vom Leben Beängstigte dem in sich Beruhig-
ten, im Gleichmaaß aller Kräfte sich Bewegenden, das Leben Be-
herrschenden ! Zwei Antipoden ihrem ganzen Wesen nach, nur in
Einem sich gleich, in dem Verfolgen hochgesteckter künstlerischer
Ziele! In seinem stürmischen Drange hatte der Jüngere den
Älteren fast eingeholt: gleichzeitig mit der Vollendung des Abend-
mahles war die Gruppe in S. Peter entstanden.
Wenn Michelangelo sich Lionardo vergleichen durfte, und wenn
er neben Diesem seine Stellung im florentinischen Kunstleben bald
sich angewiesen sah, so war er doch viel zu hellsichtig, als daß
er nicht die größere Reife der Meisterschaft seines Rivalen hätte
erkennen und ihr Hinweise entnehmen sollen. Aber freilich nur
insoweit hier ein Ansporn, die Kunst der Anordnung und die
Schönheitsform auszubilden, gegeben war. Auf dem eigensten
Gebiete Lionardos, in der Madonnendarstellung, deren neue Kon-
zeption damals in den Mittelpunkt alles künstlerischen Interesses trat,
nimmt Michelangelo den Wettstreit auf; denn daß er sich in jenen
Jahren vorzugsweise mit solchem Stoffe beschäftigt, ist gewiß in
hohem Grade aus den Jenem verdankten Impulsen zu erklären,
wie wir diese zugleich in den Zeichnungen schöner und charakte-
ristischer Köpfe deutlich spüren, nicht allein der Formengestaltung,
sondern auch der Technik nach, denn damals beginnt er neben
der Feder den von Lionardo beliebten, weiche, malerische Wir-
kungen erzielenden Röthel anzuwenden. Am bedeutungsvollsten
jedoch zeigt sich Dessen Einfluß wohl darin, daß sich Michelangelo
 
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